Sven Papenbrock erlebt in seinem Alltag viele Situationen, wo er sich nicht ernst genommen fühlt. Grund dafür sind oftmals seine Behinderungen: Lernschwierigkeiten (Selbstbezeichnung von Menschen mit sogenannten Lernbehinderungen) und einer Tetraparese, eine spastische Behinderung. Aufgrund dieser Behinderungen hat Sven Schwierigkeiten beim Sprechen und sitzt im Rollstuhl. Doch nicht nur mit Svens Behinderungen werden Menschen nicht ernst genommen.
Laut einer Umfrage der Aktion Mensch und YouGov von 2019 haben rund 60 Prozent der Menschen, die eine Behinderung, eine chronische Krankheit oder eine psychische Erkrankung haben, schon einmal Diskriminierungen im Alltag erfahren, zum Beispiel durch rücksichtsloses Verhalten von Mitmenschen oder indem sie nicht ernst genommen worden sind. Das deckt sich auch mit meinen Erfahrungen und denen vieler anderer behinderter Menschen. Doch ab wann ist es eine Benachteiligung und ab wann eine Diskriminierung?
Erst seit kurzem setze ich mich damit auseinander. Oftmals ist es schwer zu trennen, wo Diskriminierungen anfangen. Dabei macht es einen Unterschied, welche Behinderung man hat. Wenn man im Rollstuhl sitzt, ist die Behinderung ersichtlich. Leute wissen, dass es eine Rampe braucht, um in den Zug zu kommen.
Kürzlich war ein Kollege im Rollstuhl auf einer Messe. Auf dem Rückweg, gab es aufgrund von Personalmangel niemanden, der für ihn die Rampe anlegen konnte. Der Zug hatte dadurch 25 Minuten Verspätung und das Zugpersonal und Mitreisende waren genervt. Und dann kam die Durchsage vom Zugpersonal: “Wir verlassen Düsseldorf mit 25 Minuten Verspätung. Der Grund waren organisatorische Probleme.”
Eine Sehbehinderung sieht man Leuten oftmals nicht an. Sie können in der großen Masse an Menschen einfach so untertauchen. Ein Kollege mit Sehbehinderung sagt zum Beispiel: “Ich muss mich jedes Mal outen. Ich muss es jedes Mal erzählen, dass ich eine Sehbehinderung habe, z.B. wenn ich im Supermarkt ein Produkt nicht finde und mir nur gesagt wird: ’Dritter Gang links.‘.“ Viele Leute sind verwundert, wenn er dann sagt: “Können Sie es mir zeigen?” Aber ist diese Situation schon eine Benachteiligung? “Ja, wenn die Leute dann mit Unverständnis reagieren”, erklärt mir mein Kollege.
Das sind Benachteiligung und je mehr ich darüber nachdenke, fallen mir persönlich auch welche ein. Zum Beispiel hatte ich nach meiner Schulzeit einen Termin bei der Agentur für Arbeit. Der Sachbearbeiter entschied aufgrund von Aktenlage, dass ich aufgrund meines hohen Betreuungs- bzw. Pflegebedarfs nur für eine Fördergruppe in Frage komme. Das war für mich keine Option und so initiierte ich mit meinem Unterstützer*innenkreis ein einjähriges Pilotprojekt zur Vorbereitung auf die Arbeit in der Werkstatt. Nur dadurch erlangte ich einen Hauptschulabschluss und konnte wenigstens in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten. Dabei haben viele Leute nicht an mich geglaubt.
Es braucht unglaublich viel Energie und ein Netzwerk als Ressource, um als behinderter Mensch eine für sich gute, möglichst inklusive Situation zu schaffen. Außerdem – und gerade als Mensch mit Lernschwierigkeiten – ist man von Unterstützer*innen und Betreuer*innen abhängig. Es braucht den Rückhalt aus der Familie und von Freund*innen.
Übrigens: Ich habe dann insgesamt 13 Jahre in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet. In dieser Zeit wurde ich von meiner Gruppenleiterin gemobbt, weil meine Stofftierphobie nicht ernst genommen wurde. Ihr könnt euch sicher vorstellen, was das mit dem Selbstwertgefühl macht.
Wertschätzung und Anerkennung gibt es nicht, wenn man in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeitet. Ich habe zum Beispiel nur 150 € für meine Arbeit bekommen. Außerdem musste ich eine Arbeit machen, die ich aufgrund meiner Behinderung gar nicht gut machen konnte. Es gab keine Anpassungen an meine Fähigkeiten. Es gab keinen Kurs um Lesen und Schreiben zu lernen oder wie man mit dem Computer umgeht. Niemand hat mit mir Hilfsmittel ausprobiert oder mich dabei unterstützt, meine Kommunikation zu verbessern, zum Beispiel irgendwo anzurufen.
Erst jetzt, wo ich aus der Werkstatt raus bin, wächst mein Selbstwertgefühl wieder, weil ich Wertschätzung und Anerkennung erfahre. Es ist unglaublich anstrengend und kostet immer wieder viele Bemühungen, dass ich und meine Bedürfnisse ernst genommen werden. So geht es vielen Menschen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten. Viele verlieren irgendwann die Lust, sich dagegen zu wehren. Außerdem fehlt oftmals der Zugang zu Informationen, weil es zum Beispiel keine Informationen in leichter Sprache gibt.
Damit euch nicht dieselben Dinge passieren, wie mir und anderen Menschen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten:
- wendet euch an eurer Bezugspersonen
- Überlegt euch, was man als nächstes tun kann.
- Lasst euch beraten! Zum Beispiel bei einer Teilhabeberatungsstelle
- Meldet Diskriminierungen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und
- wehrt euch, wenn ihr nicht ernst genommen werdet.
Mit unserer Belonging Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von LichtBlick den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Unsere Kolumnist*innen für das Jahr 2023 sind die engagierten Aktivist*innen von SOZIALHELDEN e.V. mit dem Themenschwerpunkt Behinderung & Intersektionalität am Arbeitsplatz. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“.“