Inklusionsbarometer - Wie ist es um die Inklusion auf dem deutschen Arbeitsmarkt bestellt?

Zum Jahresende werfen wir einen Blick auf den aktuellen Stand des deutschen Arbeitsmarktes in Sachen Inklusion.

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von Silke Georgi, December 20, 2023
Inklusionsbarometer

Die Aktion Mensch und das Handelsblatt Research Institute haben im November 2023 zum elften Mal ihren jährlichen Inklusionsbarometer Arbeit veröffentlicht. Der Inklusionsbarometer ist ein Instrument zur Messung der Fortschritte und Rückschritte bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt. Anhand von zehn Indikatoren werden unterschiedliche Dimensionen des Arbeitsmarkts beurteilt und miteinander in Bezug gebracht.

Erst einmal zu den guten Nachrichten aus dem Bericht:

  • Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung sank 2022 von 11,5% auf 10,8% und somit auf den niedrigsten Wert seit der Erhebung des Inklusionsbarometers. Rund 59.000 arbeitslosen Schwerbehinderten gelang es, einen neuen Arbeitsplatz zu finden und 2.400 gingen in die Selbstständigkeit.
  • Erfreulich ist auch, dass die Anzahl der Anträge auf Kündigungen von Arbeitnehmer*innen mit Behinderung zurückgegangen ist. Ob das daran liegt, dass Unternehmen in Zeiten des Fachkräftemangels sich mehr Mühe geben, ihre Mitarbeitenden zu halten? Oder ist es vielleicht sogar darauf zurückzuführen, dass Unternehmen Diversity, Equity and Inclusion in der Praxis ernst nehmen und Inklusion am Arbeitsplatz immer besser gelebt wird? Das weiß man nicht so genau.

Das war es dann aber auch schon fast mit den guten Nachrichten. Beinahe 15 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt noch nicht viel getan. Wir sind noch weit entfernt von echter Inklusion. Und das, obwohl Deutschland sich mit Unterzeichnung der Konvention verpflichtet hat, umfassende Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Das Inklusionsbarometer nimmt Bezug auf das Deutsche Institut für Menschenrechte, nachdem Menschen mit Behinderungen beim Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin strukturell benachteiligt sind. Sie haben eine deutlich geringere Erwerbsbeteiligung, können seltener ihren Lebensunterhalt aus ihrem Lohn bestreiten und sind fast doppelt so häufig und auch deutlich länger arbeitslos als Menschen ohne Behinderungen.

Andere bezeichnende Vergleiche zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, die der Inklusionsbarometer in Bezug auf den Arbeitsmarkt hervorhebt, sind:

  • Menschen mit Behinderung, die einen Arbeitsplatz gefunden haben sind dort ebenso nachhaltig beschäftigt, wie ihre Kolleg*innen ohne Behinderung. 82 Prozent der Personen mit Behinderung, die im Jahr 2021 eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt angetreten sind, waren nach sechs Monaten noch sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Unter den Menschen ohne eine Behinderung waren es mit 85 Prozent kaum mehr.
  • 48 Prozent der arbeitslosen Menschen mit einer Behinderung sind 55 Jahre oder älter. Bei den Arbeitslosen, die nicht schwerbehindert sind, sind es nur 23 Prozent.
  • Die Situation für Langzeitarbeitslose mit Behinderung ist wesentlich schwieriger als derer ohne Behinderung. Menschen mit Behinderung sind im Durchschnitt 365 Tage arbeitslos, Menschen ohne Behinderung “nur” 271 Tage.

Trotz Fachkräftemangel fehlt vielen Unternehmen weiterhin die Bereitschaft und das Wissen, inklusiver zu werden, so die Erkenntnis aus dem Inklusionsbarometer. Laut Gesetz müssen Unternehmen ab 20 Mitarbeitenden mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderung besetzen. Das funktioniert in der Praxis leider noch lange nicht so, wie gesetzlich vorgeschrieben. Insgesamt fallen 174.919 Unternehmen in Deutschland unter die Beschäftigungspflicht. Darunter sind ganze 45.000 Unternehmen, die keine einzige Person mit einer Schwerbehinderung beschäftigen. Dahingegen sind es 39 Prozent der Unternehmen, die ihre Beschäftigungspflicht vollkommen erfüllen.

Je größer die Unternehmen sind, desto häufiger erfüllen sie ihre Pflichtquote ganz oder fast. So liegt die Beschäftigungsquote bei Unternehmen mit mindestens 60 Beschäftigten bei durchschnittlich 4,8% - sehr nah an der Pflichtquote von fünf Prozent. Kleinunternehmen mit 20 bis 39 Beschäftigten schaffen es hingegen nur auf 2,9 Prozent. Ein Lichtblick ist die Tatsache, dass die öffentlichen Arbeitgeber*innen mit 6,3% die Mindestquote mehr als erfüllen. Private Unternehmen liegen dagegen im Durchschnitt nur bei 4,0. Hier ist mal ein Bereich, in dem die Privatwirtschaft etwas von der öffentlichen Hand lernen kann!

Genauso können sich einige große Unternehmen auch manche kleine Unternehmen zum Vorbild nehmen: Kleine Unternehmen, die weniger als 20 Mitarbeitende beschäftigen, fallen nicht unter die Beschäftigungspflicht. Zum Teil stellen sie jedoch trotzdem bewusst Menschen mit Behinderung ein. Eine repräsentative Teilerhebung hat ergeben, dass zwischen 2015 und 2022 kleine Unternehmen einen Zuwachs von 33 Prozent von Beschäftigten mit Behinderung hatten. Zum Vergleich: Bei den Unternehmen, die unter die Beschäftigungspflicht fallen, beträgt der Zuwachs im selben Zeitraum lediglich 7,7 Prozent.

Vielen großen Unternehmen fällt es leichter, ihre Quote zu erfüllen als kleine Unternehmen, denn sie haben oft schon Erfahrung mit der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung. Sie haben Personalabteilungen mit den entsprechenden Ressourcen, um sich mit Antragstellungen und der dazugehörenden Bürokratie befassen zu können. Vielen kleineren Betrieben fehlen die Ressourcen und das nötige Wissen zur Einstellung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung.

Darum hat das Teilhabestärkungsgesetz aus 2021 bestimmt, dass sogenannte Einheitliche Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA) in allen Bundesländern eingerichtet werden müssen. Die EAA sind zwischen dem 1. Januar 2022 und dem 1. Januar 2023 bundesweit bei 108 Trägern mit insgesamt 141 Vollzeitstellen an den Start gegangen. Diese Stellen sind als Lotsen gedacht, die mit Auskunft und Unterstützung Arbeitgeber*innen bei Fragen zu Ausbildung und Einstellung von schwerbehinderten Menschen zur Seite stehen . Erfreulich ist auch, dass die EAA Unternehmen bei der unübersichtlichen Antragstellung von Fördermitteln helfen sollen. 

Aus der Praxis wissen wir: Es ist wichtig, dass Unternehmen, die Unterstützung bei ihren Inklusionsbemühungen brauchen, diese EAAs in Anspruch nehmen. Bis jetzt sind die Erfahrungen der Unternehmen mit den EAAs sehr gemischt. Manche EAAs erfüllen ihre Lotsenrolle schon gut, andere sind noch ziemlich am Schwimmen in ihren neuen Aufgaben. Die EAAs werden aber aus dem Austausch mit Unternehmen lernen und ihre Leistungen an die Fragen und Bedürfnisse der Arbeitgeber*innen anpassen wollen und müssen.

Unternehmen, die keine oder nicht genug schwerbehinderte Menschen beschäftigen, müssen eine sogenannte Ausgleichsabgabe bezahlen. Ab dem 1. Januar 2024 wird vor allem die Ausgleichsabgabe erhöht für Unternehmen mit mindestens 60 Beschäftigten, die keine Menschen mit Behinderung beschäftigen. Sie müssen dann 720 Euro, anstatt wie vorher 360 Euro, pro Monat bezahlen. Für kleinere Unternehmen mit 20 bis 39 Beschäftigten steigt die Abgabe von 140 auf 210 Euro und Unternehmen mit 40 bis 59 Beschäftigten bezahlen 410 anstelle von 245 Euro. Zu hoffen ist, dass diese erhöhte Sanktion die nötige Wirkung zeigt, um Unternehmen darin zu bekräftigen, ihre Inklusionsbemühungen zu verstärken.

Eine beunruhigende Nebenwirkung der Ausgleichsabgabe ist laut der Autor*innen des Inklusionsbarometers, dass eine Reihe von Unternehmen bewusst unter dem Schwellenwert von 40 Mitarbeiter*innen bleiben, um die Ausgleichsabgabe zu vermeiden, bzw. um nicht eine zweite Person mit Behinderung einstellen zu müssen. Dass Unternehmen so ihr eigenes wirtschaftliches Wachstum einschränken, nur um nicht inklusiver werden zu müssen, gibt zu bedenken. 

Der Inklusionsbarometer zeigt, dass es hier und da kleine Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt gibt. Aber im Ergebnis ist den Worten von Christina Marx, Mitglied der Geschäftsleitung von Aktion Mensch, nichts zu zu fügen: 

“In Zeiten des demographischen Wandels und des sich zuspitzenden Fachkräftemangels können Unternehmen es sich nicht mehr leisten, auf die Potenziale von Inklusion zu verzichten! Insbesondere, da wir aus unserer Studienarbeit wissen, dass es unter Menschen mit Behinderung im Vergleich mehr gut qualifizierte Fachkräfte gibt. Jetzt müssen endlich Taten folgen.” 

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Mit unserer Belonging Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von LichtBlick den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Unsere Kolumnist*innen für das Jahr 2023 sind die engagierten Aktivist*innen von SOZIALHELDEN e.V. mit dem Themenschwerpunkt Behinderung & Intersektionalität am Arbeitsplatz. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“.“ 

Die Sozialheld*innen setzen sich für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ein. Sie bezeichnen sich auch als konstruktive Aktivist*innen. Ihr Team besteht aus Medienschaffenden, Kommunikateur*innen, IT-Spezis und vielen weiteren kreativen und engagierten Menschen, die nach dem Motto “einfach mal machen” handeln. Mit über 15 Projekten arbeiten die Sozialheld*innen am sogenannten Disability Mainstreaming und wurden bereits vielfältig ausgezeichnet.

Foto: Andi Weiland

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