375 Jahre unschuldig in Haft

Warum Menschen, die sich und andere retten, ins Gefängnis müssen

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von Monica Nguyen, March 26, 2025
Leave No One Behind

Hoffnung hinter Gittern: Die vergessenen Geschichten

Europa spricht von Menschenrechten, doch an den Grenzen werden sie gebrochen. Wer flieht, sucht Schutz – und landet stattdessen hinter Gittern. Menschen wie Homayoun, Hanad, Amir oder Akif wurden zu drakonischen Strafen verurteilt, weil sie in einem Moment der Not handelten. Sie steuerten ein Boot, weil es sonst niemand tat. Sie saßen am Steuer, weil sie dazu gezwungen wurden. Sie versuchten zu überleben – und wurden dafür kriminalisiert.

Ihre Geschichten stehen für Tausende, deren Schicksale im Verborgenen bleiben. Denn in Europa ist Flucht keine menschliche Realität mehr, sondern ein politisches Vergehen.

Die Fälle – Namen, Schicksale, Ungerechtigkeit

Homayoun Sabetara (60, Iran) – 18 Jahre Haft

Homayoun wollte zu seinen Kindern nach Berlin. Doch an der griechischen Grenze wurde er verhaftet, als „Schmuggler“ angeklagt und zu 18 Jahren Haft verurteilt. Drei Jahre saß er in Untersuchungshaft – bis er durch öffentlichen Druck und die Vertretung durch Menschenrechts- und Strafanwälte endlich freikam.

Amir Zahiri & Akif Rasuli (Afghanistan) – 50 Jahre Haft

Sie flohen vor Krieg und Verfolgung. 2022 wurden sie verhaftet, weil sie ein Boot steuerten, das Richtung Europa fuhr. Amirs Frau war hochschwanger, sein zweijähriges Kind sah ihn zum ersten Mal in Handschellen. Drei Jahre saß er unschuldig in Haft. Nach öffentlichem Druck wurde die Strafe reduziert – Amir ist inzwischen bei seiner Familie, Akif nicht.

Hanad Abdi Mohammad (28, Somalia) – 146 Jahre Haft

Hanad steuerte unter Zwang ein Boot, das in Seenot geriet. Er übernahm die Verantwortung, um Leben zu retten – und wurde mit 146 Jahren Haft bestraft. Eine Strafe, die nicht nur sein Leben, sondern auch unser Versagen als Gesellschaft widerspiegelt.

Unbekannt (Sudan) – 375 Jahre Haft

Ein 21-jähriger Geflüchteter aus dem Sudan überlebte den Schiffbruch seines Bootes kurz vor der griechischen Küste. Vier Menschen ertranken, 20 wurden gerettet. Weil er das Boot steuerte, wurde er direkt nach seiner Rettung verhaftet – nur weil er die Überfahrt nicht bezahlen konnte. Die „Strafe“: viermal lebenslänglich.

N. – Verlor seinen sechsjährigen Sohn und wurde verhaftet

Ein Boot kenterte, sein Kind ertrank. Doch statt Sicherheit und der Möglichkeit zu trauern  fand N. sich in einem griechischen Gefängnis wieder – angeklagt für den Tod seines eigenen Sohnes. Dieses Muster wiederholt sich immer wieder: Wer überlebt, wird bestraft.

Unbekannt (Syrien)

Er floh mit seiner Frau und Tochter vor dem Assad-Regime. Doch das Geld reichte nur für sie, also schickte er sie voraus. Neun Monate später hatte er immer noch nicht genug für seine eigene Flucht und erklärte sich bereit, das Boot nach Griechenland zu steuern. Dort wurde er festgenommen. Vor Gericht fragte die Richterin allen Ernstes: „Warum flohen Sie vor Assad? Der ist doch jetzt weg…“, obwohl er floh, als Assad noch im Land war. Seine Strafe wurde reduziert, er durfte weiterreisen – doch zwei weitere Angeklagte erhielten drakonische Strafen. Ihre Anwält*innen kämpfen weiter für ihre Freilassung.

Diese Schicksale sind keine Einzelfälle. Über 2000 Geflüchtete sitzen derzeit in griechischen Gefängnissen – bestraft für ihre eigene Flucht.

Kriminalisierung auf der Flucht: Ein perfides System

Europa hat keine sicheren Wege für Schutzsuchende geschaffen. Wer fliehen muss, ist gezwungen, lebensgefährliche Routen zu wählen. Doch statt Schutz zu gewähren, kriminalisiert die EU die Geflüchteten selbst. Viele der Verurteilten sind Schutzsuchende, die aus purer Not handeln: Sie steuern Boote, weil es sonst niemand tut – oft unter Zwang oder in Todesangst. Sie helfen anderen, weil es keine sichere Alternative gibt. Sie sitzen am Steuer eines Fahrzeugs, weil Schleuser sie dazu gezwungen haben oder weil die eigentlichen Fahrer geflohen sind.

Willkürliche Urteile und politische Abschreckung

Wer keinen EU-Pass hat, wird für Hilfeleistung kriminalisiert – mit Haftstrafen von 18, 50 oder 146 Jahren. Diese Urteile sind willkürlich, Beweise oder Zeugen für eine kriminelle Absicht fehlen oft. Schutzsuchende erhalten keine angemessene Verteidigung, ihre Prozesse dauern oft nur Stunden. Statt Schleusern werden jene bestraft, die selbst vor Gewalt und Krieg fliehen. Diese Kriminalisierung folgt einem politischen Kalkül: Die Abschreckung soll andere davon abhalten, sich auf den Weg zu machen. Migration wird als Verbrechen dargestellt, Grenzen werden militarisiert, Pushbacks und die Behinderung der Seenotrettung nehmen zu – mit tödlichen Folgen.

Abschottung statt Schutz

Während Europa sich als Verfechter der Menschenrechte inszeniert, setzt es an den eigenen Grenzen auf Repression: Seenotrettungsorganisationen werden kriminalisiert, Frontex ist in illegale Pushbacks verwickelt, Schutzsuchende landen in überfüllten Lagern oder direkt im Gefängnis. Diese Maßnahmen sind keine Versehen, sondern bewusste politische Entscheidungen. Die Botschaft ist klar: Schutzsuchende sollen abgeschreckt werden – mit harten Strafen und unüberwindbaren Grenzen.

Die Rolle von #LeaveNoOneBehind: Solidarisch für Gerechtigkeit

#LeaveNoOneBehind steht für gelebte Solidarität mit Menschen auf der Flucht. Wir handeln dort, wo Staaten versagen. Solidarität mit #LeaveNoOneBehind bedeutet:

Wir unterstützen Schutzsuchende und Initiativen, die sich für sie einsetzen.
Wir reagieren schnell und unbürokratisch in Krisensituationen.
Wir bieten eine Plattform für aktive Organisationen an den EU-Außengrenzen und darüber hinaus.

Seit der Gründung nach dem Brand von Moria 2020 kämpft #LeaveNoOneBehind mit rechtlicher, finanzieller und politischer Unterstützung für Geflüchtete. Denn die Kriminalisierung von Schutzsuchenden ist kein Einzelfall. Diese Ungerechtigkeit darf nicht in Vergessenheit geraten. #LeaveNoOneBehind setzt sich dafür ein, dass diese Menschen gehört, unterstützt und freigelassen werden.

Was tun wir konkret?

Rechtshilfe: Zusammenarbeit mit Organisationen wie dem Human Rights Legal Project Samos (HRLP), um unschuldig Verurteilte zu verteidigen.
Proteste und Mobilisierung: Aufmerksamkeit schaffen, Fälle publik machen, politischen Druck aufbauen.
Spenden sammeln: Anwaltskosten finanzieren, Gerichtsgebühren übernehmen, Unterstützungsstrukturen stärken.

Ohne Spenden und internationale Aufmerksamkeit wären viele dieser Menschen noch immer im Gefängnis. Wir lassen keine Person alleine zurück – dafür sind die Grenzregime zuständig.

Was wir alle tun können

Niemand ist machtlos. Jede*r kann Teil des Wandels sein – ob im Kleinen oder Großen. Gemeinsam können wir Ungerechtigkeit sichtbar machen und konkret helfen.

Informieren & Aufklären

  • Sprich mit Freund*innen und Familie über die Kriminalisierung von Schutzsuchenden.
  • Teile Geschichten und Fakten in deinen Netzwerken – denn Sichtbarkeit schafft Druck.
  • Organisiere eine Infoveranstaltung oder Filmvorführung zu Flucht und Menschenrechten.

Engagieren & Unterstützen

  • Jede Spende zählt: Schon kleine Beträge können helfen, Haftstrafen anzufechten oder Menschen eine Vertretung zu ermöglichen
  • Starte eine eigene Spendenaktion, z. B. zum Geburtstag oder Jubiläen..
  • Schließe dich einer lokalen Gruppe an, die Geflüchtete unterstützt.

Kreativ werden & Aufmerksamkeit schaffen

  • Zeichne, schreibe, musiziere oder gestalte Aktionen, um das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen.
  • #LeaveNoOneBehind arbeitet mit Illustrator*innen und Künstler*innen zusammen, um diese Geschichten sichtbar zu machen. Möchtest du mitwirken? Melde dich an zeroyears@lnob.net 

Politischen Druck machen

  • Schreibe an Abgeordnete und fordere sie auf, gegen diese Praxis vorzugehen.
  • Unterschreibe und verbreite Petitionen für faire Asylverfahren und gegen Kriminalisierung.
  • Geh auf Demos und setze dich für eine menschliche Flüchtlingspolitik ein.

Jede Tat zählt – sei es ein Gespräch, eine Spende oder eine Protestaktion. Veränderung beginnt mit uns. Lasst uns gemeinsam für Gerechtigkeit kämpfen! 

Gemeinsam für eine gerechtere Zukunft

Hinter jedem Urteil stehen Menschen mit Hoffnungen und Träumen. Ihre Freiheit hängt von unserer Solidarität ab. Wir dürfen nicht zulassen, dass Schutzsuchende als Kriminelle behandelt werden, während Europa sich aus der Verantwortung zieht.

Machen wir es sichtbar. Machen wir es gemeinsam.

We #LeaveNoOneBehind.

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Über die Autorin:

Monica Nguyen
Monica Nguyen ist Fundraiserin bei #LeaveNoOneBehind und setzt sich für soziale Gerechtigkeit und die Unterstützung von Geflüchteten ein. Sie entwickelt kreative Kampagnen, um Aufmerksamkeit und finanzielle Mittel für humanitäre Projekte zu mobilisieren. Ihr Fokus liegt auf der Verbindung von Kunst, Aktivismus und Solidarität, etwa durch Projekte wie die „Null Jahre“-Kampagne, die sich gegen die Kriminalisierung von Geflüchteten richtet.