Über das Verspeisen von Pflanzen und Tieren

Von Menschenrechten zu Tierrechten und wieder zurück.

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von Sohra Behmanesh, October 26, 2022
   Über das Verspeisen von Pflanzen und Tieren

Ich behaupte ja gerne von mir, ich sei nicht abergläubisch oder so. Aber eigentlich stimmt das gar nicht. Es fällt mir z.B. echt schwer, zu akzeptieren, dass es ein Zufall gewesen sein soll, dass ich an diesem schicksalshaften Tag vor 23 Jahren beim Ausverkauf in einem Plattenladen vier CDs von vier verschiedenen Bands gekauft habe – und auf zwei dieser CDs jeweils ein veganer Song war. Das war Anno 1999! Die beiden Sänger dieser Bands haben damals wahrscheinlich einen höheren zweistelligen Prozentsatz der gesamten veganen Szene des Planeten ausgemacht! Und weil das Internet zu jener Zeit eher Insider-Charakter hatte, bewarb die eine Band in ihrem CD-Booklet einen postalisch bestellbaren veganen Katalog, und schrieb Dinge wie „non-violent lifestyle“ und „cruelty-free feetwear“. Und auch wenn mir Veganismus natürlich ein Begriff war, und auch wenn meine jüngere Schwester schon einige Jahre zuvor Vegetarierin geworden war, nachdem sie eine Doku über Massentierhaltung gesehen hatte, musste ich erst mal überlegen, was die damit meinen und was das mit unserem Essen und unseren Schuhen zu tun hat: violence. cruelty. Und habe – nachdem ich dieses Booklet zum ersten Mal in der Hand hatte – nie wieder Tiere gegessen. Und ein paar rastlose Wochen später voll quälender „eigentlich müsste ich“ und „das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren“ und „puh, aber wie soll das funktionieren“ traf ich endlich die Entscheidung auch Milch und Eier nicht mehr als Lebensmittel für mich zu akzeptieren – und fühlte mich unendlich erleichtert und befriedet. Der moralische Imperativ hatte schwer auf mir gelastet und das Ringen und Hadern hatten ein Ende.

Ich hatte keine Doku über Massentierhaltung gesehen. Ich war/bin auch nicht „tierlieb“; Katzenvideos lassen mich kalt, Hunde-Liebe ist mir ein Rätsel. Aber ich war damals schon sehr politisch. Die rot-grüne Regierung hatte gerade einen Kriegseinsatz beschlossen über den ich hochempört war, und mein damaliges Engagement gegen diese Militarisierung festigte meine Identität als Pazifistin. Und genau da erwischten mich diese beiden Begriffe: violence. cruelty. Es war meine politische Haltung zu Menschenrechten, die mich damals zu Tierrechten brachte. Und in den folgenden Jahren war es auch immer wieder umgekehrt. Aber es ist ja auch klar: Diese Dinge sind alle interconnectet.

Alles ist interconnectet. Tamam.

Und theoretisch ist das weitgehend Common Sense. Krieg, Kapitalismus, Ausbeutung, Diskriminierung, Klimakrise, Armut, Hungersnöte – da steckt System dahinter.

Praktisch… sieht es aber etwas anders aus.

Ich glaube, die meisten Menschen in unserer Gesellschaft essen Tiere nicht etwa, weil es mit ihren Werten vereinbar wäre sie zu essen. Sondern sie essen Tiere, OBWOHL es NICHT mit ihren Werten vereinbar ist. Wir wissen um Massentierhaltung, Tiertransporte und grausame Tötungsmethoden. Wir alle sind damit nicht einverstanden. Eigentlich. Deswegen ist es Menschen die Tiere essen auch so wichtig, immer wieder zu betonen, dass sie nur „ganz wenig“, und wenn, dann „nur Bio-Fleisch“ essen (in Wirklichkeit unterschätzen Deutsche jedoch ihren tatsächlichen Konsum von sogenannten Fleischprodukten um nicht weniger als 71 Prozent, und der Marktanteil von sogenanntem Bio-Fleisch liegt gerade mal um die 3 Prozent.)

Viele wissen bereits, das hat mit kognitiver Dissonanz zu tun. Auch das ist menschlich, bei politischen Themen, die uns unangenehm sind, entwickeln wir viele Strategien, die uns davor schützen, uns ehrlich und integer damit auseinandersetzen zu müssen, so dass wir einfach alles beim Alten lassen können. Und bei diesem Thema ist eine unserer Hauptstrategien: Wir tun so, als sei das Mensch-Tier-Verhältnis kein politisches Thema.

Eine systematische Auseinandersetzung mit Tierrechten findet selbst in progressiven politischen Diskursen rund um Social Justice praktisch nicht statt. Über Tierrechte wird in Tierrechtskreisen gesprochen, sonst nirgends. Diese Weigerung, Tierrechte in unser Verständnis von sozialer Gerechtigkeit aufzunehmen, hat mal wieder mit dem Patriarchat zu tun, das sich in unser aller Sozialisation geschlichen hat, die exklusiven Rechte an Sachlichkeit und Neutralität für sich beansprucht, und alles, was irgendwie nach Emotionalität riecht, ablehnt. Und Veganismus und Tierrechte werden dabei als irgendwie Gefühlsduselei mit Tieren abgetan. Und dabei ist es kein Zufall, dass die meisten Menschen, die vegan leben, weiblich sind.

Das bedeutet einerseits, zu ignorieren, was das Essen von Tieren mit Kapitalismus, Gewalt und so vielen anderen Ausbeutungs- und Machthierarchien zu tun hat, die wir ablehnen, und zu leugnen, dass Speziesismus eine reale Diskriminierungskategorie ist, auf deren Basis die gewaltvolle Unterdrückung von (bestimmten) Tieren mit ihrer Artzugehörigkeit begründet wird. Und andererseits damit, Empathie und Fürsorge als Faktoren in unseren politischen Diskursen abzuwerten.

Das Patriarchat in uns lässt uns denken: Empathie lenkt uns ab, verweichlicht uns, lässt uns nicht klar und sachlich auf ein Thema gucken. Und ich sage: Erst echte Empathie befähigt uns, uns aufrichtig für die Belange und den Schmerz unseres Gegenübers zu interessieren, sein Leid als relevant anzuerkennen selbst wenn es uns gut geht. Erst Empathie befähigt mich, Tiere auch politisch als massiv Betroffene von systematischer Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung ernstzunehmen und mich mit ihnen zu solidarisieren.

Mitleid ist nicht das gleiche wie Empathie, und es ist kein Zufall, mit wem wir Empathie haben und mit wem Mitleid. Wir haben Mitleid mit jenen Spezies, die wir als Nutztiere kategorisieren, deshalb gibt es das Tierwohl-Label oder die Brüderküken-Initiative. Und so ist es seit diesem Jahr in deutschen Brütereien verboten, männliche Küken als unprofitables „Nebenprodukt“ der Eierindustrie unmittelbar nach dem Schlüpfen zu schreddern; stattdessen werden sie jetzt „erst“ mit 2-3 Monaten geschlachtet. Und wir denken wirklich, das sei ein ethischer Fortschritt! Wir wollen zwar schon Rücksicht auf unser Gegenüber nehmen, mit dem wir Mitleid haben – aber wir wollen selbst bestimmen, was das bedeutet. Unsere Rücksicht ist zum einen optional und zum anderen auf die Grenzen unserer Kulanz (!) und Komfortzone abgestimmt, nicht auf die tatsächlichen Belange derer, mit denen wir Mitleid haben. Mitleid findet nicht so relevant, dass diese männlichen Küken eigentlich 10 Jahre alt werden könnten. Mitleid kommt von oben herab.

Empathie jedoch basiert auf Gleichwürdigkeit. Gleichwürdigkeit bedeutet nicht notwendigerweise Gleichberechtigung. Und ich habe ja bereits an anderer Stelle darüber geschrieben, dass ich Gleichberechtigung nicht notwendigerweise als Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme betrachte, sondern wichtiger finde zu fragen: „Wer braucht was?“ Bei Tierrechten geht es nicht das Presse- oder Wahlrecht, das brauchen sie nicht. Aber die Tiere, die auf unseren Tellern landen, wären weggelaufen und hätten sich vor uns versteckt, wenn wir unsere Macht über sie nicht dafür missbraucht hätten, sie gewaltvoll daran zu hindern. Tiere sind fähig zu Glück und sie sind fähig zu Unglück. Es geht um das Recht auf Unversehrtheit, Freiheit und Selbstbestimmung, darum, dass Tiere in ihren eigenen sozialen Gefügen leben, ihre Kinder aufziehen und einfach ihr Ding zu machen.

Wir wissen das. Und die meisten dieser Rechte und Fähigkeiten sprechen wir nur jenen wenigen Spezies ab, die wir als essbar kategorisieren. Und dann gibt es ja noch jene Tiere, die wir als GefährtInnen betrachten, mit denen wir zusammenleben, die wir oft sogar als Familienangehörige empfinden. Wir wissen: Unser „Haustier“ hat eine eigene, individuelle Persönlichkeit, die sich von unserem letzten „Haustier“ unterscheidet, wir nehmen seine Bedürfnisse nach Gesellschaft, Zuwendung und Spiel ernst, gehen zur Tierärztin wenn es krank ist. Rechtlich gesehen ist es zwar nicht viel mehr als ein Gegenstand, aber für uns ist es eine Person. Deshalb finden wir es auch abstoßend, rückständig und unzivilisiert, wenn andere Gesellschaften Hunde oder Katzen essen. Und sehen dabei weder unsere eigene Doppelmoral, noch was Rassismus damit zu tun hat. Aber: Das ist kein Zufall. Alles ist interconnectet. Und deshalb weiß ich heute übrigens natürlich auch, dass vegan zu leben noch lange nicht bedeutet, gewalt- und grausamkeitsfrei zu leben.

Heute ist für mich klar: Veganismus braucht die gewissenhafte Einbettung in einen Social-Justice-Kontext, es braucht Privilegien- und Diskriminierungssensibilisierung. Veganismus ist nicht für alle Menschen gleich leicht zugänglich und ist in unserer Gesellschaft für eine (kleine) Minderheit gar nicht möglich. Gleichzeitig disqualifiziert sich jeder diskriminierungs- und machtkritische Diskurs als vollständige Systemkritik, der Tiere nicht als massiv diskriminierte Personengruppe anerkennt und Veganismus als antidiskriminierende Praxis und gelebte Herrschafts- und Machtkritik dethematisiert. Einem Anspruch von „Leave no one behind“ und echter sozialer Gerechtigkeit für alle werden wir nicht gerecht, wenn wir Tiere nicht mitdenken.

Am 1. November ist Weltvegantag. Seit einigen Jahren feiern wir den in unserer Familie, ein kleiner Empowerment-Akt für meine Kinder, die seit ihrer Geburt vegan leben. Nichts Großes, wir essen fancy vegane Herrlichkeiten (ich schätze, dieses Jahr wird es u.a. die neue vegane Tiefkühl-Donauwelle einer bekannten TK-Torten-Firma) und eine kleines Geschenkchen gibt es auch. Vielleicht fahren wir auch auf einen Gnadenhof, um jenen Personen kurz Hallo zu sagen, die wir nicht essen, damit immer klar ist: Bei Veganismus geht es nicht um Ernährung. In unserem Veganismus steht die Fürsorge für diese Lebewesen im Zentrum. Und es geht darum, wie wir als Mensch sein wollen und wie diese Welt aussehen muss, damit sie wirklich für alle ein gerechter, friedlicher Ort sein kann. Es geht um Belonging, um Zugehörigkeit, um Respekt.

Es geht um uns alle. Tamam.

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Mit dieser Kolumne möchten wir gemeinsam mit unseren Freund*innen von Wildling Shoes den Themen Antidiskriminierung, Belonging und Intersektionalität am Arbeitsplatz mehr Raum und Sichtbarkeit geben. Durch Artikel, Interviews und verschiedene Perspektiven wollen wir uns und alle, die im Impact-Sektor arbeiten herausfordern und inspirieren. Und gleichzeitig ermutigen, authentisch gelebte Arbeitsbereiche zu schaffen, die Zugehörigkeit fördern und Diskriminierung reduzieren. Indem wir neue Perspektiven gewinnen und einen gemeinsamen Dialog führen können wir einen kollektiven Schritt in Richtung eines radikalen Systemwandels im Impact-Sektor gehen – von „Macht über“ und „Macht für“ zu „Macht mit“. Unsere Kolumnist*in für das Jahr 2022 ist Sohra Behmanesh.