Soziale Innovation als Prävention – Vorbeugen statt Heilen

Soziale Innovation im Verhältnis zu technischer Innovation.

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by Birgit Heilig, August 22, 2017
Soziale Innovation

Innovation ist als Schlagwort in aller Munde. In Deutschland wird Innovation allerdings immer noch rein technologisch verstanden, während soziale Innovationen kaum beachtet werden. Die Förderlandschaft fokussiert sich stark auf Technologie – ein Beispiel ist der High-Tech Gründerfonds, der junge Gründer beim Aufbau technisch innovativer Geschäftsmodelle unterstützt, zu dem es aber kein Äquivalent im sozialen Bereich gibt. 

Dies ist insofern ein Fehler, als dass technische Entwicklung immer auch gesellschaftliche Auswirkungen hat und bisweilen zu groben Missständen führen kann. Nicht zuletzt beim Abgasskandal wurde deutlich, dass der Mensch immer noch hinter Profit und Technik steht. Auch wenn das Argument mit den zu erhaltenden „Arbeitsplätzen“ als Menschenfreundlichkeit angeführt wird, musste letztlich ein richterlicher Beschluss entscheiden, dass die menschliche Gesundheit Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen hat. 

Mit großer Wahrscheinlichkeit werden Elektromobilität oder gar die Umgestaltung des Individualverkehrs eine der Konsequenzen aus den derzeitigen Entwicklungen sein. 

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Der Innovationszyklus in den letzten zweihundert Jahren

Doch wieso kommt es immer erst zu menschenverträglichen Umwälzungen, wenn schädliches Verhalten ausufert? Der Vorgang ist nicht neu: technischer Fortschritt - sofern er als innovative Entwicklung bewertet werden kann - hatte niemals KEINE Folgen für die Gesellschaft. Medizin, Maschinen, Mondlandung – alles hinterlässt Spuren in gesellschaftlichen Strukturen und bisweilen im Selbstverständnis des Menschen. Wirken sich diese Spuren negativ aus, wird mit gesellschaftlichen Bewegungen gegengesteuert, die wiederum das Potenzial zu sozialen Innovationen haben.

Während der Industrialisierung etwa konnten durch maschinengetriebene Arbeitsprozesse in kürzerer Zeit mehr Waren hergestellt, deren Preise gesenkt und dadurch für eine breitere Masse erschwinglich gemacht werden. Gleichzeitig verloren viele Menschen ihren Lebensunterhalt, die gegen die Massenproduktion nicht mehr konkurrieren konnten. Die sozialen und gesundheitlichen Folgen der entstandenen Industrieballungszentren waren ebenso katastrophal: Arbeitszeiten von bis zu 13 Stunden täglich, Kinderarbeit, eine zunehmend miserable Luftqualität in den Städten, Überbelegung von Wohnquartieren ohne angemessene sanitäre Einrichtungen. 

Die dadurch verursachten hohen Krankheitsraten und frühe Sterblichkeit wurden nach und nach als ein Problem erkannt. Die ersten sozialen Bewegungen zur Behebung dieser Missstände entstanden: Gewerkschaften, Verbot von Kinderarbeit, Arbeitszeitregelungen und die Einführung der Sozialversicherung.

Die Regulierung von Arbeitszeiten führte zu weiteren Standardisierungen von Prozessen, bei denen der Mensch immer weniger und kleinteiliger arbeitete. Die immer effizientere Verarbeitung steigerte die Produktion. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Konsumgüter für die breite Masse erschwinglich - Kühlschrank, Auto und täglich Fleisch auf dem Tisch wurden zur Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig führten die Entwicklung der Atombombe und das Wettrüsten die destruktiven Möglichkeiten der Technik vor Augen. Auf einmal war die Menschheit fähig, sich selbst auszulöschen. Auch die friedliche Nutzung der Atomkraft erwies sich durch Kraftwerksunfälle als tödliches Risiko. Ausgelöst durch die Gefährdung von Mensch und Natur durch Radioaktivität entwickelte sich ab den 1970er Jahren eine starke Umweltbewegung, die allmählich die Auswirkungen des überbordenden privaten Konsums und der ressourcenverschwendenden Industrie sichtbar machte. Die Bewegung führte nicht nur zur Erweiterung der Parteienlandschaft und zu Auflagen für die Industrie und Grenzwertfestlegungen für Emissionen aller Art, um Menschen vor schädlichen Einflüssen zu schützen, sondern auch zu einem Bewusstseinswandel in der Bevölkerung, was den eigenen Konsum betraf, insbesondere bei Nahrungsmittel und Fleischkonsum.

In all diesen Prozessen fungier(t)en soziale Innovationen als Korrektiv. Sie rücken aus dem Ruder gelaufene Verhältnisse zurecht und dämmen gesellschaftliche Probleme und Fehlentwicklung ein. 

Soziale Innnovation als Chance für Prävention

Wir müssen soziale Innovation als Chance sehen, gesellschaftliche Umbrüche von vornherein abzufedern und Hand in Hand mit dem technischen Fortschritt zu gestalten. Prävention statt Heilung also. Dazu bedarf es einer vorausschauenden und ganzheitlichen Betrachtung der Entwicklungen. 

Es ist mittlerweile klar, dass eine rein ökonomische Perspektive nicht hilft, um zu verstehen, was Menschen brauchen. Ein systemischer Blickwinkel unter Einbeziehung von psychologischen, medizinischen und soziologischen Erkenntnisse wäre also wünschenswert. 

Der nächste große Bruch steht bereits vor der Tür: die viel beschworene Industrie 4.0., einhergehend mit einer Digitalisierungswelle, deren Ausmaß wir uns heute noch gar nicht recht ausmalen können. Nicht nur Industrieprozesse werden zunehmend digitalisiert, auch unser Alltag wird zukünftig immer stärker digital geprägt werden. Dabei geht es nicht nur um klassische Produktentwicklung: alles, was einem standardisierten Prozedere unterliegt, wird von Algorithmen abgelöst werden können. Dies betrifft nicht nur Fertigungsprozesse, sondern auch viele andere Bereichen, z.B. Sachbearbeitung, Anwälte, Ärzte. 

Systemischer Ansatz für soziale Innovation 

Was diese technischen „Spielereien“, die uns derzeit noch als kleine Gimmicks erscheinen, für die Gesellschaft bedeuten, ist nur schemenhaft abzusehen. Die Situation ist der der Industrialisierung nicht unähnlich: Maschine ersetzt Mensch und der Mensch muss sehen, wo er bleibt. Doch wir sollten aus der Vergangenheit lernen und nicht warten, bis die Auswirkungen einer neuen Technologie uns erneut überrollen. Wir sollten soziale Innovationen bereits von Beginn an mitentwickeln. Dazu braucht es einen systemischen Ansatz, der sich so früh wie möglich mit allen von der Digitalisierung betroffenen Bereichen beschäftigt, also eine Perspektive, die weit über die reine Arbeitsplatzstatistik hinausgeht:

  • Arbeit: Wie verändern sich die Berufsbilder? Wie kann man Menschen, die vor dem Verlust ihrer Arbeitsplätze stehen, umschulen oder so weiterbilden, dass sie auch nach der digitalen Transformation eine Chance haben? Beruf ist heute stark mit Status verbunden. Wie kann man die Degradierung und gefühlte Erniedrigung vermeiden, die mit einem breiten Arbeitsplatzabbau einhergehen? Schaffen wir es, den Wert des Menschen wieder von seiner Leistung abzukoppeln und auf seine Existenz zu begründen?
  • Sozialstaat: Ob die schnelle Umstellung von Qualifikationen gelingt, ist fraglich. Dass zunächst viele Arbeitsplätze abgebaut werden, ist kein unrealistisches Szenario. Die Herausforderung wird sein, wie man die Betroffenen auch materiell in Zukunft gut versorgen kann, um ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft verhindern kann.
  • Bildung: Unser Schulsystem steht schon lange in der Kritik – nicht zuletzt im Bereich Digitaler Medien. Wie können wir das Bildungssystem sinnvoll so umgestalten, dass unsere Kinder auf eine veränderte, digitale Welt gerüstet sind?
  • Psychologisch: Welche Auswirkungen wird der Umbruch auf den Einzelnen haben? Viele Menschen definieren sich über ihren Beruf, identifizieren sich mit ihrer Tätigkeit - der Wegfall ihrer Arbeit wird zu Unsicherheit führen und es gilt, diese Menschen respektvoll und wertschätzend zu begleiten. 
  • Soziale Beziehungen: Eine Frage, die durchaus heute dank Smartphone bereits im Raum steht: wie kommunizieren wir miteinander? Wo erhalten wir uns die existenziell menschlichen Bindungen? Und was bedeutet es für die Beziehung zwischen Laien und Experte, wenn z.B. Patienten dank digitaler Überwachung ihrer Gesundheit ein größeres Wissen über sich gewinnen und dem Arzt gegenüber viel autonomer auftreten können? 
  • Menschliches Selbstverständnis: Künstliche Intelligenz wird nicht nur in unseren beruflichen, sondern auch in unseren privaten Alltag eingreifen und uns zur Auseinandersetzung mit unserer Autonomie und Handlungsfähigkeit zwingen. Wie können wir weiter selbständige Entscheidungen treffen, anstatt uns hilflos und ohnmächtig zu fühlen? Gibt es dann überhaupt noch „analoge Rückzugsräume“? 

Nicht nur KI wird uns vor viele, auch ethisch schwierige, Fragen stellen. Doch genau diese Fragen eröffnen uns die „Schutzräume“ vor der Digitalisierung, die auch mentaler Natur sein können. Wir können uns darauf besinnen, welche Dinge niemals vom Menschen losgelöst und digitalisiert werden können: das Erleben und Verarbeiten von Emotionen, Träumen und Visionen erstellen, die Abstimmung von Wertesystemen und Zielsetzungen. 

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Der Mensch wird immer noch die Rahmenbedingungen der Gesellschaft, in der er lebt, gestalten können. Aus diesem Blickwinkel heraus sollten wir betrachten, welche Folgen Digitalisierung auf uns als Einzelne, auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und auf die Bewertung des Menschen an sich hat. Hier liegt der Boden für soziale Innovationen, die nicht als Korrektur agieren, sondern eine sich wandelnde Gesellschaft auf allen Ebenen mitgestalten können.