Leistungsdruck und Langeweile?!

Simon Köhl von der Lernplattform Serlo kämpft dagegen an.

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by Julia Wegner, January 16, 2017
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ursprünglich erschienen: 05.11.2015

Anfang des Jahres haben wir Euch ‘Deutschlands Social Entrepreneurs to Watch‘ vorgestellt. Simon Köhl von Serlo ist einer davon. Serlo bietet eine kostenfreie Lernplattform für SchülerInnen, um die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland zu verbessern. Im Interview berichtet Simon, was sie von herkömmlichen Schulbüchern und Online-Kursen unterscheidet, den Herausforderungen im Bildungssystem und was Wikipedia eigentlich damit zu tun hat. 

Erzähle uns von Serlo

Serlo ist eine freie Lernplattform für SchülerInnen. Stell Dir vor, für Dich als SchülerIn ist alles Schulwissen an einem zentralen Ort einfach verfügbar, komplett kostenlos, ohne Schul-Login oder dergleichen. Es gibt verständliche Erklärungen, spannende Aufgaben und Beispiele, Videos und komplette Unterrichtsstunden als Kurse. Alles ist übersichtlich sortiert, schwierige Begriffe sind verlinkt, die Schulfächer nehmen Bezug aufeinander, es gibt interaktive Animationen, direktes Feedback zu jeder Übungsaufgabe und es ist immer ein/e KlassenkameradIn verfügbar, dem/der du Fragen stellen kannst. Daran arbeiten wir mit Serlo.

Welche Veränderung beim Lernen wollt Ihr mit Serlo erreichen?

Serlo kann die Lernkultur einer Schule verändern. Wir verbinden einzelne Inhaltsbausteine zu einem großen zusammenhängenden Lernangebot. Je besser wir dieses Netzwerk aus Erklärungen und Übungen bauen, desto selbständiger können sich die SchülerInnen durch den Stoff bewegen und zwar in ihrem eigenen Tempo, ihren eigenen Interessen folgend und mit der Methode, auf die sie gerade Lust haben. Selbständige SchülerInnen entlasten die LehrerInnen bei der Wissensvermittlung. Dadurch haben PädagogInnen mehr Freiraum für individuelle Förderung.

Serlo ist ein Sozialunternehmen, welches gesellschaftliche Problem löst Ihr?

Das statistische Bundesamt hat erhoben, dass nur zehn Prozent der Gymnasiasten aus Elternhäusern kommen, in denen die Eltern einen Hauptschulabschluss oder keinen allgemeinen Schulabschluss haben, in der Hauptschule liegt der Anteil der SchülerInnen mit diesem sozialen Status bei 56 Prozent. Unser Beitrag gegen diese Ungerechtigkeit ist, niedrigschwellige und wertvolle Lernmöglichkeiten allen SchülerInnen zur Verfügung zu stellen, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern oder vom Bundesland in dem sie zur Schule gehen – so trägt Serlo zu mehr Bildungsgerechtigkeit bei. Darüber hinaus haben wir viele weitere Wirkungsfelder, wie die Beteiligung der SchülerInnen und stärkere Anwendungsorientierung. Wir träumen davon, digitale Räume zu schaffen, in denen sich SchülerInnen jederzeit über die Grenzen der Schulen, Länder und Kulturen hinweg austauschen und miteinander lernen können. Wäre das nicht großartig?!

Zur Situation in den Schulen gehört auch, dass viele SchülerInnen unter hohem Leistungsdruck stehen und obendrein das Gefühl haben, nicht auf “das richtige Leben” vorbereitet zu werden. Woran liegt das Deiner Meinung nach?

Hinter dem Leistungsdruck und der gefühlten Sinnlosigkeit beim Pauken, steht meiner Meinung nach ein Problem, das unter anderem die Bertelsmann Stiftung und das Deutsche Kinderhilfswerk gut belegen: SchülerInnen in Deutschland dürfen die Schule inhaltlich kaum mitgestalten. Die Lehrpläne sind bis zum Rand gefüllt mit Stoff, aber unterschiedliche Interessengruppen fordern weiter neue Inhalte, die SchülerInnen auf gesellschaftliche Veränderungen und Anforderungen des Arbeitsmarkt vorbereiten sollen. Dabei wissen wir erstens, dass junge Menschen selbst sehr gute Seismographen für gesellschaftliche Entwicklungen sind und zweitens, dass intrinsische Motivation die größeren Lernerfolge bringt.

Was kann eine Internetseite daran ändern?

Ich wünsche mir, dass wir ein besseres Gleichgewicht finden aus einerseits verpflichtender Allgemeinbildung, auf die wir uns als Gesellschaft einigen und andererseits Freiräumen für die individuellen Interessen und Potentiale der SchülerInnen. Was können wir dafür tun? Bei Serlo animieren wir die Schüler mitzumachen, Inhalte zu diskutieren und eigene Themen zu gestalten – auch jenseits der aktuellen Lehrpläne. "Auf diese Weise fördert Serlo eigenverantwortliches Handeln und zeigt, dass Wissen konstruiert ist und immer neu konstruiert werden kann." Damit sich die jungen Menschen in unserer rasend schnellen und vielfältigen Welt zurechtfinden, sind Eigenverantwortung und Gestaltungskraft mindestens genauso wichtig, wie reines Wissen und die Erfüllung von Kompetenzrastern.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Deiner eigenen Schulzeit und Deiner Motivation Serlo zu gründen?

In die Grundschule bin ich gerne gegangen aber gar nicht gerne ins Gymnasium. Ich musste zwei Klassen wiederholen, war gut in den Fächern die mir Spaß machten und schlecht, wo man Disziplin von mir einforderte. Ich habe mich zugleich unterfordert und überfordert gefühlt. Unter diesem Eindruck besuchte ich auf einer Reise die buddhistische Klosterschule “Serlo” in Nepal. Inspiriert von diesem wunderschönen Ort begonnen wir gleich nach der Rückkehr mit der Programmierung von Serlo. Noch als Schüler der zwölften Klasse haben wir beschlossen für kommende SchülerInnen-Generationen die Möglichkeiten zu schaffen, die wir selbst gerne gehabt hätten. Unsere Schulen haben diese Initiative damals bezeichnenderweise nicht unterstützt. Sechs Jahre später wurde aus dem Hobby ein Beruf. Wir helfen heute jeden Monat hunderttausenden von SchülerInnen, inzwischen auch mit der großartigen Unterstützung unserer ehemaligen Lehrer.

Als großes Vorbild nennst Du Wikipedia. Warum?

An der Wikipedia fasziniert mich, wie viele Menschen gemeinsam etwas erschaffen, was anschließend der ganzen Gesellschaft gehört und nützt. Diese Idee übertragen wir auf das Lernen. Wie die Wikipedia ist Serlo ein Wiki, jeder kann mitmachen. Das Schulwissen und die Übungen werden von unserer sehr engagierten Community entwickelt. Dort kommen ganz unterschiedliche Menschen zusammen und bringen ihre Ideen und Talente ein. LehrerInnen tragen ihre Materialien und Erfahrungen bei, DesignerInnen gestalten, Unternehmen geben Praxisbeispiele, SchülerInnen geben Feedback, SoftwareentwicklerInnen programmieren interaktive Aufgaben und WissenschaftlerInnen liefern didaktische Konzepte. Jede Person, die leidenschaftlich gerne anderen etwas beibringt, kann etwas beitragen und sich bei Serlo für freie Bildung engagieren.

Wie weit seid Ihr mit Euren Zielen schon gekommen und was sind die nächsten Schritte?

2014 haben 1.8 Millionen Personen auf Serlo zugegriffen, darunter 357.000 SchülerInnen, die intensiv und regelmäßig mit Serlo lernten. Wir haben 6000 verständliche Erklärungen, Übungen, Musterlösungen, Lernvideos und Unterrichtsstunden als Kurse konzipiert und online umgesetzt. Aktuell konzentrieren wir uns auf Mathematik, das Nachhilfefach mit der höchsten Nachfrage. Um vernetztes Lernen, die Zusammenarbeit der AutorInnen und Prozesse zur Qualitätskontrolle auf einer Plattform zu verbinden, haben wir eine eigene Software entwickelt. Neben Mathematik starten aktuell drei weitere Schulfächer und das englischsprachige Serlo.

Dennoch sind wir angesichts der vielen Möglichkeiten einer „Wikipedia für’s Lernen“ noch ein Startup. Zu den großen Herausforderungen gehört der Aufbau einer Community engagierter AutorInnen und ein stabiler Ressourcen-Zufluss von Spendern und PartnerInnen. Ein weiteres Thema ist die Entwicklung von der relativ statischen Website, zu einer interaktiven und adaptiven Applikation, die unseren NutzerInnen automatisch in kleinen Schritten Feedback gibt und intelligente Empfehlungen ausspricht.

Nun gibt es bereits andere Lernplattformen wie z. B. Coursera oder die Khan Academy, was ist das Besondere an Serlo?

Die etablierten MOOC Plattformen wie Coursera, Edex oder Udacity erstellen Onlinekurse für StudentInnen im Auftrag zahlender KundInnen. Serlo hingegen richtet sich an SchülerInnen. Wir haben den Anspruch alle Fächer abzubilden, in vielen Sprachen der Welt und zwar für immer kostenlos und ohne Werbung. Damit sind wir Vorreiter in Deutschland und haben auch international nur die Khan Academy als wirklichen Mitstreiter. Ein Unterscheidungsmerkmal ist uns jedoch besonders wichtig und macht uns einzigartig: Serlo ist ein Wiki und eine demokratische Organisation. Jede Person, die Serlo mitgestaltet, kann in der Community und als Mitglied auch über die entscheidenden Richtungsfragen mitbestimmen. So erheben wir uns nicht über die LehrerInnen und SchülerInnen sondern überlassen ihnen und allen anderen Mitgliedern unserer Gesellschaft die große Frage was gute und richtige Bildung ist. Wir gewährleisten also langfristig, unseren Werten treu zu bleiben und den sozialen Auftrag nicht aus den Augen zu verlieren.

Der Bundestag hat für den Haushalt 2015 das erste Mal ein Budget für Forschung zu freien Bildungsmaterialien (OER) zur Verfügung gestellt. Was erhoffst Du Dir von dieser Entwicklung?

Hinter dem Begriff OER (Open Educational Resources), verbirgt sich die Idee, dass Bildungsmaterialien, die von Steuergeldern finanziert werden, für alle Menschen frei zugänglich und frei weiternutzbar sein sollen. Als führende deutsche OER-Initiative erfahren wir durch die Popularität des Themas zunehmend die Anerkennung und Kooperationsbereitschaft der öffentlichen Hand. Allerdings sind freie Lizenzen ein großer kultureller Wandel, der entsprechend Zeit braucht, auch wenn der Gedanken so sinnvoll und naheliegend ist wie das Recht auf Trinkwasser. Während die politische Akzeptanz dafür langsam wächst, setzen wir die Idee einfach schon mal um. Inhalte auf Serlo sind frei lizenziert. Das bedeutet, sie sind Gemeingut und dürfen nach belieben verändert, kopiert und verbreitet werden. Das ist zum Beispiel für LehrerInnen interessant, die Serlo ohne urheberrechtliche Bedenken als Materialsammlung nutzen. Wir öffnen uns mit der freien Lizenz aber auch anderen Organisationen, Unternehmen oder staatlichen Institutionen, die ihre Angebote auf unserer Arbeit aufbauen dürfen.

Versteht Ihr Euch als Konkurrenz zu Schulbuchverlagen?

Nein. Als gemeinnützige Organisation, treten wir an, um soziale Probleme wie den ungleichen Zugang zu Bildung zu lösen. Schulbuchverlage sind nicht die Ursache dieser Probleme. Allerdings werden die Verlage durch unsere Arbeit herausgefordert, ihre Geschäftsmodelle weiterzuentwickeln. Dazu stehen wir im Austausch mit den großen Verlagen und setzen auf Kooperation statt Konkurrenz. Ich denke, von diesem Veränderungsdruck profitieren am Ende alle, weil Bildungsmaterialien innovativer und vielfältiger werden.

Wer steht hinter Serlo? Und wie motivierst Du Dein Team?

Wir sind ein dreißigköpfiges, buntes Team aus haupt- und ehrenamtlichen Redakteuren, Softwareentwicklern und Organisatoren mit einem Büro im Zentrum des studentischen Lebens von München. In den letzten Jahren haben wir gemeinsam mehr als 60.000 Stunden ehrenamtliche Arbeit in das Projekt investiert.

In einer wissenschaftlichen Arbeit zur Organisationskultur von Serlo wurde deutlich, dass die Motivationen zu diesem Engagement von Person zu Person sehr unterschiedlich sind. Impulse gebe ich zum Beispiel, indem ich nach außen für die Ziele von Serlo mit Ernsthaftigkeit und mit Begeisterung eintrete. Intern legen wir viel wert auf unsere Teamworkshops, Klausurtagungen und Partys. Wir haben einen sehr achtsamen Umgang miteinander und arbeiten effizient und voller Energie, das macht super viel Spaß!

Du hast also Deinen Traumjob gefunden?

Auf jeden Fall! Ich bin glücklich etwas bewirken zu dürfen und mit liebenswerten und interessanten Menschen zusammenzuarbeiten. Meine Arbeit sehe ich manchmal wie politische Kunst, sie vereint Zweck und Selbstzweck, also einerseits in der Zukunft die intendierte soziale Wirkungen erreichen und andererseits im täglichen Moment nach Schönheit streben und Gemeinschaft schaffen. Natürlich ist das kein Dauerzustand. Wie überall gibt es Rückschläge und nervige Arbeit, da heißt es Zähne zusammenbeißen und weitermachen.

Was sind Deine 3 Top Learnings für andere GründerInnen insbesondere im Bildungsbereich?

  1. Neugründungen erfordern jahrelangen Strukturaufbau. Im Bildungsbereich gibt es schon sehr viele gute Ideen und Lösungen. Vielleicht kannst Du mit Deiner Energie auch UnternehmerIn im Sozialunternehmen werden und vorhandene Strukturen nutzen.
  2. Wenn du gründest, beginne früh mit der wirkungsorientierten Planung und Kommunikation, z. B. mithilfe des “Kursbuch Wirkung”. Du solltest das Problem, dass du lösen möchtest, sehr gut verstehen und genau wissen, ob und wie deine Aktivitäten zur Lösung des Problems beitragen.
  3. Vereine und Genossenschaften können ebenso agil und professionell arbeiten wie GmbHs. Wenn die GründerInnen mit Überzeugung führen und nicht mit der Autorität eines Eigentümers, können hoch effektive Teams entstehen. Die Mitgliedschaft hilft, Menschen zu begeistern, weil ihnen gehört woran sie arbeiten und sie tatsächlich mitbestimmen dürfen.

Photocredits: Axel Öland