Nur wo’s kracht, kann auch was wachsen

Die verborgene Kraft der Konflikte

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by Tamara Harmsen, November 20, 2024
Büro, Frau am Laptop, Kopf in den Händen, Stress

“Hier gibt es keine Konflikte!”

Ein Satz, der in vielen Organisationen immer noch mit Stolz geäußert wird. Doch was auf den ersten Blick wie ein Zeichen von Harmonie klingt, ist oft das Gegenteil einer gesunden Konfliktkultur:

Spannungen werden ignoriert, Meinungsverschiedenheiten unter den Teppich gekehrt und Unstimmigkeiten schwelen unbemerkt weiter, bis sie zu handfesten Konflikten eskalieren. Dabei sind Konflikte keineswegs ein Zeichen von Versagen. Wo immer Menschen zusammenkommen, kann es sie geben. Sie sind unvermeidlich – und vor allem eines: eine Chance! Eine Chance, Beziehungen im Team zu stärken, voneinander zu lernen und als Organisation zu wachsen.

In diesem Artikel erfahrt Ihr, warum eine lebendige Konfliktkultur der Schlüssel zu erfolgreicher Zusammenarbeit ist, welche Barrieren uns daran hindern, Konflikte offen anzusprechen und wie Organisationen Strukturen schaffen können, um Spannungen konstruktiv zu nutzen.

Warum ist eine lebendige Konfliktkultur in Organisationen so wichtig?

Nettsein macht krank

Chronisches Nettsein kann krank machen, erklärt Dr. Gabor Maté im Podcast The Diary of a CEO. Wer ständig Konflikte vermeidet und nur auf Harmonie bedacht ist, vernachlässigt oft seine eigenen Bedürfnisse. Das kann zu innerer Anspannung und Stress, zu körperlichen Symptomen wie Schlafstörungen und in manchen Fällen sogar zu chronischen Erkrankungen führen. Zudem verhindert es eine ehrliche, authentische Kommunikation – eine wichtige Grundlage für Wohlbefinden. Eine gesunde Konfliktkultur ist daher für die (mentale) Gesundheit unerlässlich.

Konflikte als Katalysator für Teamzusammenarbeit

Konstruktiv ausgetragene Konflikte sind ein wesentlicher Motor für die Entwicklung und das Wachstum von Teams. Sie ermöglichen es, unterschiedliche Perspektiven einzubringen und voneinander zu lernen. Wenn Spannungen offen angesprochen werden, stärkt dies das Vertrauen zwischen den Teammitgliedern und schafft eine Kultur, in der alle gehört werden. Dies fördert das Zugehörigkeitsgefühl und unterstützt die psychologische Sicherheit, die laut Amy C. Edmondson ein zentraler Faktor für besonders effektive und erfolgreiche Teamzusammenarbeit ist.

Konflikte kosten – und zwar ordentlich

Ungenutzte Konflikte sind teuer: Sie stören Arbeitsabläufe, verzögern Entscheidungen und mindern die Produktivität. Hinzu kommen indirekte Kosten wie erhöhte Personalfluktuation und krankheitsbedingte Fehlzeiten, die Unternehmen langfristig belasten. Laut der Konfliktkostenstudie von KPMG (2009) verlieren Unternehmen durch gescheiterte oder verzögerte Projekte durchschnittlich 50.000 Euro pro Jahr – in jedem zehnten Fall sogar mehr als 500.000 Euro. Eine funktionierende Konfliktkultur ist also nicht nur eine Frage der mentalen Gesundheit und der Zusammenarbeit im Team, sondern auch ein messbarer wirtschaftlicher Faktor.

Ohne Konflikte kein New Work

Gerade Organisationen oder Teams, die auf Selbstorganisation, verteilte Führung und Eigenverantwortung setzen, sind auf eine lebendige Konfliktkultur angewiesen. “Eskalation nach oben” war gestern. In Strukturen, in denen es keine klassische Schiedsrichterrolle von Führungskräften mehr gibt, brauchen Teams eigene Mechanismen, um Spannungen und Konflikte konstruktiv zu lösen.

Little Fires Everywhere: Warum  Konflikte in Organisationen meist unter den Teppich gekehrt werden

Angst vor Zurückweisung

Die Vermeidung von Konflikten hat oft psychologische Wurzeln in frühkindlichen Erfahrungen. Viele Menschen lernen bereits in der Kindheit, dass das Ansprechen unangenehmer Themen zu Ablehnung oder Liebesentzug führen kann. Dieses Verhalten prägt das Erwachsenenleben, insbesondere im Arbeitskontext, wo das Bedürfnis nach Zugehörigkeit oft wichtiger erscheint als Authentizität. Geschlechtsspezifische Rollenbilder verstärken diese Dynamik: Weiblich sozialisierte Personen vermeiden Konflikte, um nicht als „schwierig“ zu gelten, während männlich sozialisierte Personen Spannungen ignorieren, um keine vermeintliche Schwäche zu zeigen. Diese Muster erschweren einen offenen und konstruktiven Umgang mit Spannungen.

Vermeidung und Machtstrukturen

Organisationen, die Konflikte erst dann angehen, wenn sie eskaliert sind, arbeiten oft im „Feuerwehrmodus“. Statt Spannungen frühzeitig zu erkennen und proaktiv zu lösen, werden sie verdrängt, bis sie zu ernsthaften Problemen werden. Das kostet Zeit und Energie und erschwert die Lösung, weil verhärtete Fronten oft den Dialog blockieren. Kulturelle Normen wie die Angst vor Gesichtsverlust oder die Erwartung, Harmonie um jeden Preis zu wahren, behindern eine offene Kommunikation. Machtstrukturen verstärken dies zusätzlich, da Mitarbeitende aus Angst vor Konsequenzen Konflikte vermeiden. So entsteht ein Teufelskreis aus Konfliktvermeidung und Eskalation, gegen den selbst ein Feuerlöscher keine Chance mehr hat.

Fehlende Vorbilder

Bildungs- und Familiensysteme bereiten nur unzureichend auf den Umgang mit Konflikten vor, da sie häufig eher auf Gehorsam und Harmonie als auf offene Auseinandersetzung ausgerichtet sind. In vielen Familien werden Spannungen vermieden oder durch die Autorität der Eltern schnell „gelöst“, anstatt gemeinsam nach einer Klärung zu suchen. Auch in den Schulen fehlt es oft an Raum für Diskussionen oder an Methoden, die konstruktive Konfliktlösungen fördern. Stattdessen werden Konflikte häufig sanktioniert oder einfach ignoriert. Diese Prägungen tragen dazu bei, dass viele Menschen Spannungen als bedrohlich und nicht als Chance empfinden.

Spannungen als Chance: Wie Organisationen eine lebendige Konfliktkultur fördern können

Klar, eine lebendige Konfliktkultur ist wichtig. Aber wie kann eine solche Kultur in Organisationen gefördert werden? Drei mögliche Ansatzpunkte:

Entweder-oder 🔜 Sowohl-als-auch

Viele von uns glauben, dass Konflikte eine Wahl zwischen Ehrlichkeit/Authentizität und Mitgefühl/Fürsorge erfordern: Entweder wir sind ehrlich und riskieren, andere zu verletzen, oder wir schweigen, um die Harmonie zu wahren. Dieses verinnerlichte Entweder-Oder-Denken führt oft dazu, dass Konflikte vermieden werden oder unausgesprochen bleiben. Die Gewaltfreie Kommunikation (GfK) zeigt jedoch, dass beide Bedürfnisse – Ehrlichkeit und Mitgefühl – miteinander vereinbar sind. Indem wir unsere Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken und gleichzeitig die des Gegenübers würdigen, können wir Lösungen finden, die für beide Seiten tragfähig sind. Vor einem Konfliktgespräch unter vier Augen ist daher Raum und Zeit für Reflexion das A und O: 1. Selbstempathie, um die eigenen Auslöser, Gefühle und Bedürfnisse zu verstehen und 2. empathisches Einfühlen in die Perspektive und die guten Absichten des Gegenübers. So schaffen wir die Basis für ein konstruktives Gespräch.

“Wer hat Schuld oder Recht?” 🔜 “Wer braucht was?”

Die Gewaltfreie Kommunikation (GfK) bietet Teams einen radikalen Perspektivwechsel: Statt sich auf Schuld oder Recht zu konzentrieren, fragt die GfK nach den zugrundeliegenden Bedürfnissen – “Wer braucht was?” Dieser Ansatz eröffnet einen konstruktiven Umgang mit Konflikten und lenkt den Fokus weg von Schuldzuweisungen hin zu einer tieferen Ebene des Verstehens. Die GfK basiert auf der Grundannahme, dass alle Menschen die gleichen universellen Bedürfnisse wie Sicherheit, Anerkennung oder Zugehörigkeit haben, aber unterschiedliche Strategien, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Konflikte entstehen, wenn eben diese Strategien kollidieren. Hinter jedem menschlichen Verhalten steht demnach der Versuch, Bedürfnisse zu befriedigen – auch wenn dieses Verhalten für andere problematisch oder verletzend ist. Diese konsequent positive Unterstellung ermöglicht Empathie und erleichtert es, Konflikte nicht persönlich zu nehmen.

Struktur 🔜 Kultur

In der systemischen Organisationsberatung gilt: Strukturen prägen die Kultur. Ohne klare Prozesse für den Umgang mit Konflikten bleibt das Thema oft tabuisiert oder wird nur reaktiv behandelt. Strukturen hingegen geben Sicherheit und Orientierung, wie mit Spannungen umgegangen werden kann. Beispiele für Spannungs- und Konfliktklärungsstrukturen sind regelmäßige Team-Retrospektiven, Projekt-Retrospektiven, eine strukturell verankerte regelmäßige bilaterale Feedback-Praxis oder Konfliktklärungsformate, die im gesamten Team durchgeführt werden, wie ein Clear-the-Air-Meeting (CTA) oder ein Restorative Circle. Ebenso wichtig sind Auffangstrukturen und Sicherheitsnetze, die greifen, wenn zwei Personen einen Konflikt nicht bilateral lösen können, wie z.B. Mediation. Darüber hinaus braucht es Mechanismen, um eskalierte Situationen zu entschärfen, z.B. durch die Unterstützung einer neutralen dritten Partei, wenn eine oder beide Seiten zu stark getriggert sind.

Nice to have 🔜 Notwendig to have

Eine lebendige Konfliktkultur ist kein "nice to have", sondern eine Notwendigkeit – für mentale Gesundheit, effektive Teamarbeit und den Erfolg lernender Organisationen. Sie beginnt mit der Bereitschaft, Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen, sondern ihnen aktiv zu begegnen und entfaltet sich durch Strukturen, die Sicherheit und Orientierung bieten. Sei es durch Gewaltfreie Kommunikation, regelmäßige Retrospektiven oder Konfliktklärungsformate im Team: Wer Konflikten Raum gibt, schafft die Basis für Wachstum, Vertrauen und Innovation. Denn nur dort, wo Spannungen sichtbar gemacht und gelöst werden, kann wirklich Neues entstehen – für Einzelne, Teams und ganze Organisationen.

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Über die Autorin

Tamara Harmsen

Tamara Harmsen ist agile Team- und Organisationsentwicklerin und systemische Transformationsberaterin. Seit über 4 Jahren begleitet sie Organisationen in ganzheitlichen Transformationsprozessen. Sie setzt sich für einen menschenzentrierten Wandel in der Arbeitswelt ein, der auf Partizipation, Empowerment und Selbstorganisation basiert. Als Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation (GfK) schafft sie Räume für (Selbst-)Empathie, Verständigung und Kooperation. Weiterbildungen in Systemischer Transformationsberatung, The Loop Approach© und Design Thinking gehören ebenfalls zu ihrem methodischen Werkzeugkoffer. Ihr akademischer Hintergrund ist Politikwissenschaft (BA) und Internationale Beziehungen (MA).

Seit September 2024 ist Tamara Trainerin der GOOD CHANGE FACILITATOR AUSBILDUNG. Am 17.02.2025 beginnt die 2. Kohorte. Denn:

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Quellen

Dr. Gabor Maté im Podcast The Diary of a CEO (2023): Doctor Gabor Maté: The Shocking Link Between Kindness & Illness! https://www.youtube.com/watch?v=L7zWT3l3DV0 

Amy C. Edmondson (2018): The Fearless Organization: Creating Psychological Safety in the Workplace for Learning, Innovation, and Growth.

KPMG-Konfliktkostenstudie (2009): Die Kosten von Reibungsverlusten in Industrieunternehmen.

Marshall B. Rosenberg (2015): Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens.