Gendergerecht Innovieren

Ein Plädoyer für mehr Gendergerechtigkeit in und aus dem New Work Kontext.

SHARE
by Eleonora Azzaoui und Rea Eldem, February 13, 2024
Gendergerecht Innovieren

GENDERGERECHTIGKEIT LIEGT NICHT NUR BEI DEN ANDEREN. AUCH IN DER NEW WORK-WELT IST VIEL LUFT NACH OBEN

Gender-Innovation Gap, maskuline Start-Up Kultur, Bias  in der Finanzierung - diese Phänomene sind alle Realität. Eigentlich wollen wir es nicht so gerne wahrhaben und zeigen lieber mit dem Finger auf die Organisationen mit traditionellen und verkrusteten Strukturen. Wir müssen uns allerdings eingestehen, dass auch die neuen, zukunftsorientierten und agilen Organisationen ein Problem mit Gleichstellung haben. Das nervt, das passt nicht ins Weltbild und ist vor allem nicht zeitgemäß.

Aber wieso sollte es auch anders sein? Der Begriff New Work hat sich zunächst in Bezug auf Globali- sierung und Digitalisierung etabliert. Die dazugehörigen Werte wie Teilhabe, Selbstständigkeit und Freiheit sind Auslegungssache. So würde Gendergerechtigkeit im Kontext von Innovation in der neuen Arbeitswelt theoretisch gut zu diesen Werten passen, und ist dennoch nicht ansatzweise eingetreten. So geht ein großes Innovationspotenzial verloren, denn Diversität ist ein Treiber für Innovation.

Das Pink Paper Gendergerecht Innovieren geht darauf ein, was das bedeutet. Wir – zwei Organisationen, mitten aus dem New Work Kontext – möchten eine kritische Selbstanalyse unseres Ökosystems wagen und die Frage aufwerfen, was gendergerechte Innovation bedeuten kann. Wir sind neugierig, welches Potenzial entfesselt wird, wenn Akteur*innen bei der Entwicklung von Innovationen Gendergerechtigkeit mitdenken. Und mehr noch, wir stellen uns und dir die Frage: Welche Rolle und Verantwortung haben wir als Teil der New Work Community?

WER KANN EIGENTLICH WAS FÜR WEN ENTWICKELN? SOZIALE POSITIONEN, MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN

Unternehmen investieren sehr viel Geld in Maßnahmen, um sich innovativer aufzustellen, also Mitarbeiter*innen mit Design Thinking, Scrum und anderen nützlichen Methoden auszustatten und Strukturen zu schaffen, in denen sie sich ausprobieren können. Dazu gehört im besten Fall auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeitskultur.

Eine Arbeitskultur impliziert auch immer Leitprinzipien und Alltagspraktiken. Uns interessiert besonders, wie diese Innovation bedingen oder hemmen. Innovation geht also mit einem bestimmten Mindset einher. Innovation als Mind-Set stellt die Frage, was besser gemacht werden kann. Dies setzt ein Verständnis für Menschen und deren Bedürfnisse voraus, für die eine Situation verbessert werden soll. Methoden wie Design Thinking legen aus diesem Grund einen starken Fokus auf Nutzer*innen, die inmitten ihrer realen Um- und Gedankenwelt möglichst ganzheitlich analysiert und verstanden werden sollen.

Die Relevanz von Diversität liegt für Teams, die sich mit Methoden wie Design Thinking auf die Suche nach Innovation begeben, auf der Hand. Aber auch für andere methodische Ansätze stellt sich die Frage, wie Teams sich in andere hineinversetzen sollen, deren Lebensrealität sie nicht einmal im Ansatz nachvollziehen können?

Mit gutem User-Research lassen sich spannende Erkenntnisse gewinnen – aber es gibt reale Grenzen des Möglichen. Innovator*innen tun oft nicht genug, um dafür zu sorgen, dass diese Erkenntnisse nicht nur international und interdisziplinär sind, sondern auch Personen aus unterschiedlichen sozialen

Positionen einbeziehen. Gerade in einer Welt, in der Trennlinien zunehmend zwischen Stadt/Land, jung/alt, Bildungsgrad und Kulturen verlaufen, ist es wichtig, sich gegenseitig herauszufordern und zu fragen: Welche Perspektive ist hier nicht vorhanden?

Das wohl jüngst bekannteste Beispiel eines Falls, bei dem sich diese Frage wohl keine*r stellte, ist Pinky Gloves (Berry, 2021), das sich für einige so schockierend und für andere so langweilig und redundant angefühlt hat: Innovationen von Männern für Frauen, die an den Bedürfnissen von Frauen vorbeigehen und sexistische Annahmen reproduzieren. Sie werden mit einem so übersteigerten Selbstbewusstsein auf den Markt gebracht, dass sie dafür Investments finden. Über Pinky Gloves wurde genug geschrieben und gesagt, allerdings wurde der Diskurs teilweise sehr stark anhand dieses Beispiels geführt, ohne anzuerkennen, dass dies kein Einzelfall ist.

Auch über die Vergabe von Geldern (Venture Capital/VC) gibt es genug Erhebungen: Weltweit gehen nur 2-9 % der Risikokapitalfinanzierung an von Frauen geführte Unternehmen (WEF, 2021). Einem aktuellen Bericht zufolge ist nicht nur die globale Risikokapitalfinanzierung für von Frauen geführte Start-ups zurückgegangen, sondern auch der Anteil der Finanzierung von 2,8 % im Jahr 2019 auf 2,3 % im Jahr 2020 gesunken (Teare, 2020). Studien wie diese legen nahe, dass – meist männliche – Geldgeber*innen in Produkte und Dienstleistungen investieren, die sie verstehen können. Und damit auch in Menschen und Teams, mit denen sie sich identifizieren können oder die ihnen ähnlich sind.

UNBEWUSSTE & VERZERRTE WAHRNEHMUNG: ICH SEHE DICH, SO WIE ICH KANN. UND SEHE ALL DAS NICHT, WAS ICH NICHT SEHEN KANN

Es scheint an der ein oder anderen Stelle irrelevant, ob ein Austausch mit der Zielgruppe stattgefunden hat und welche Erkenntnisse diese Marktanalyse ergeben hätte. Dabei wäre eben dies so wichtig, um Verzerrungseffekten der eigenen Einschätzung vorzubeugen. Die Studienlage ist hier sehr reichhaltig und so arbeitete die Allbright Stiftung (2019) jüngst Forschungserkenntnisse zu Ähnlichkeits- und Gender- Bias auf, die Verzerrungseffekte in der Rekrutierung von Vorstandsmitgliedern nahelegen.

Von einem Gender Bias sind auch weibliche und gender-unterrepräsentierte Gründer*innen betroffen. Ihnen werden schneller die Kompetenzen wie Durchsetzungsstärke oder Rationalität abgesprochen und andere Attribute wie Empathie oder Hilfsbereitschaft zugeschrieben. Dies offenbart ein Beitrag im Harvard Business Review, der sich auf eine Analyse von VC-Auswertungen schwedischer Forscher*innen bezieht (Malmström, Johansson, Wincent, 2017).

Doppelstandards wie diese betreffen nicht nur Frauen und gender-unterrepräsentierte Gruppen. Auch andere Formen von Diskriminierung machen sich hier bemerkbar, etwa Rassismus. Diese Diskriminierungen greifen ineinander und wirken simultan. Die Erfahrungswelt einer Person wird somit von unterschiedlichen sozialen Identitäten beeinflusst. So ist beispielsweise die Erfahrungswelt einer Frau mit Migrationsgeschichte sowohl durch ihr Geschlecht als auch durch ihre Herkunft bestimmt.

Dieses Zusammenspiel von unterschiedlichen Identitäten prägt die eigene Wahrnehmung und wie andere mich wahrnehmen. Außerdem ermöglicht es Personen, unterschiedliche Positionen einzunehmen, zu verstehen und nachzuempfinden – oder eben nicht.

OHNE INNOVATION KEINE NEUEN IDEEN. KEINE IMPULSE UND KEIN WANDEL

Warum streben Organisationen überhaupt nach Innovationen?

1. Wettbewerb wird über Innovationsfähigkeit ausgetragen.

2. Innovative Organisationen ziehen Talente an und bleiben dadurch wettbewerbsfähig.

3. Organisationen mit innovativen Arbeitsweisen können schnell auf neue Anforderungen reagieren.

New Work bedeutet im Kontext von Innovation, dass Strukturen für Kreativität und innovative Ideen geschaffen werden. Alte Strukturen müssen also verändert oder neue geschaffen werden, um das Innovator’s Mind-Set und Werte wie Teilhabe, Selbstständigkeit und Freiheit zu etablieren. Das sogenannte Innovator’s Mind-Set zeichnet sich durch empathisches, kreatives, mutiges und reflektiertes Verhalten aus. Nach dieser Logik entfalten Menschen und Organisationen so ihr volles Potenzial.

Das ist für uns ein wenig zu kurz gedacht: Wir interessieren uns für verantwortungsvolle Innovation. Und diese darf nicht nur bedeuten, die gleichen Machtstrukturen wieder zu reproduzieren, sondern sie so zu gestalten, dass sie wirklich inklusiv sind. Denn nur dann profitieren Menschen und Organisationen nachhaltig.

Oder andersherum: Kann der Begriff New Work überhaupt für sich in Anspruch nehmen, zeitgemäß zu sein, solange eine echte Teilhabe durch das Vernachlässigen von Gendergerechtigkeit nicht inhärent ist? Ist es nicht die selbst auferlegte Rolle der New Work Bubble, Vorreiter*in für modernes Arbeiten zu sein? Das gleiche gilt für Innovation: Können wir es uns heute wirklich noch erlauben, über Innovation zu sprechen, ohne über gesellschaftlichen und sozialen Impact nachzudenken?

INNOVATION OHNE PURPOSE: ANTI-SOZIALE INNOVATION?

Auf die Frage, was Innovation bedeutet, ist die Antwort fast immer: Technologie, Apps oder etwas in Richtung Digitalisierung. Wir beobachten, dass es selten um die Frage nach den Prozessen oder darum, wer in welcher Form beteiligt ist, geht. Das ist entgegen unserem Verständnis von Innovation. Dieses beinhaltet neben Nutzer*innen-Zentrierung, Wirtschaftlichkeit und Machbarkeit auch immer die Frage nach dem Sinn und Zweck. Also die Frage nach dem gesellschaftlichen oder sozialen Impact. An dieser Schnittmenge findet nachhaltige Innovation statt.

Themen wie Gendergerechtigkeit werden oft als nice-to-have angesehen und nicht als Kern oder Potenzial für die Unternehmenskultur. Innovationen, die Aspekte wie Gender bedenken, fallen unter das Stichwort soziale Innovation. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass Projekte, die Gendergerechtigkeit nicht berücksichtigen, anti-soziale Innovationen entwickeln?

Vielleicht nicht immer und nicht unbedingt. Aber es liegt auf der Hand, dass Unternehmen mehr erreichen können, wenn schon an der Entwicklung von Ideen diverse Gruppen beteiligt werden. Und das funktioniert, indem das Verständnis von Gendergerechtigkeit ein fester Bestandteil von innovativem Handeln wird und Maßstab für damit verknüpfte Aktivitäten.

AUCH DAS INNOVATIONS-NARRATIV IST NICHT NEUTRAL. HIER MANIFESTIERT SICH EIN GENDER BIAS

Ein homogenes Team erlegt sich selbst Einschränkungen auf, was die Anteilnahme an anderen Lebensrealitäten und die damit einhergehende limitierte Sichtweise auf Innovationsmöglichkeiten angeht. Zudem wirkt sich der Gender-Bias auch auf das Narrativ aus, welches um Innovation herum gesponnen wird.

Die Person, die Innovation antreibt und umsetzt, ist in unseren Köpfen eher männlich, weiß, zwischen 30 und 50 Jahre alt und mit einigen unternehmerischen Attributen wie risikobereit oder leistungsstark versehen. Dieser Mythos ist durch die Sichtbarkeit einzelner prominenter Personen in den letzten Jahren sehr stark in das kollektive Verständnis eingegangen.

Durch Personen wie Steve Jobs oder Elon Musk werden Attribute wie Mut und Risikobereitschaft immer wieder mit Innovation verknüpft, in den Mittelpunkt gestellt und aufrechterhalten. So hält sich der Mythos des Gründers und eben auch der Mythos, dass es vor allem männlich kodierter Eigenschaften bedarf, um Innovation voranzutreiben.

In Unternehmen zeigt sich dass durch das Hochhalten von Phrasen wie „Traut euch, Fehler zu machen“ oder der Erwartung, Mitarbeiter*innen sollten „ihren Perfektionismus ablegen“ und „einfach mal Machen“ und „Neues ausprobieren“. Für all dies müssen aber zunächst entsprechende Strukturen geschaffen werden. Innovationen geschehen nicht einfach so. Es bedarf proaktiver Maßnahmen, um eine Kultur aufzubauen, die Innovationsfähigkeit fördert. Ansonsten können es sich nur wenige leisten, Risiken einzugehen und mit dicker Lippe durchs Büro zu gehen.

WAS VERSTEHEN WIR EIGENTLICH UNTER KOMPETENZ UND WEM TRAUEN WIR WAS ZU?

Sprache und die damit einhergehenden Bilder im Kopf sind nicht neutral, sondern gestalten Möglichkeiten. Viele der Zuschreibungen sind derzeit männlich kodiert. Weiblich konnotierte Begriffe mit ins Innovations-Narrativ einfließen zu lassen, wäre beispielsweise ein wichtiger Hebel für das gesamte Ökosystem.

Auch Risikokapitalgeber*innen sollten hier an einer Re-Priorisierung arbeiten und wichtige Innovationsattribute für die Auswahl von geeigneten Projekten aufwerten: Empathie, adaptives Mind-Set, vorausschauendes, kritisches und sinnstiftendes Verhalten. In dem Buch Starting a Revolution wird dieses Phänomen passend wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wir setzen Maskulinität mit Selbstbewusstsein gleich und verwechseln dieses dann mit Kompetenz“ (Ryland/Jaspers 2020, S. 9).

Auch in unserer Arbeit mit großen Unternehmen macht sich diese Haltung bemerkbar; dort wo Innovation von Innen heraus etabliert werden soll, setzt sich eine männliche Geschlechterpraxis durch und Intrapreneurship, also Unternehmer*innentum innerhalb einer Organisation wird für weibliche Personen erschwert. Eine Intrapreneurin aus einem Innovationsprojekt mit Kobold beschreibt: „Nur weil man nicht als der Stage-Typ - extrovertiert und mit Ellenbogen-Mentalität - durch den Alltag geht, heißt das nicht, dass man weniger kompetent, qualifiziert oder schwach ist. Den Führungskräften dieser Welt entgeht so viel, wenn sie weiterhin nur die Showmen pushen.“

Es sind diese impliziten, oft für diejenigen mit benannten „Showmen-Qualitäten“, unsichtbaren Hürden, die ein Ungleichgewicht ins Innovation- Game bringen. Wenn weibliche Personen sich diese aneignen, verlieren sie Sympathiepunkte (Bohnet, 2022). Eine weitere Dimension, die das Thema so komplex macht und in diesem Rahmen nicht unerwähnt bleiben soll.

Es zeigt sich: Egal in welche Richtung geschaut wird, die Dimension Gender spielt immer und überall eine Rolle. Das wird wohl erstmal auch so bleiben. Umso wichtiger wäre es, die eigene Wahrnehmung zu schärfen, sich fortzubilden und über den eigenen Tellerrand hinaus zu gucken. Ohne alle hier aufgeführten Themen ganzheitlich bearbeiten zu können oder gar Antworten zu bieten, laden wir dazu ein, dich hiermit näher auseinanderzusetzen.

SEXISMUS HEUTE: UNTERSCHWELLIG, PORTIONIERT IN KLEINE HÄPPCHEN UND MACHTVOLL

Die prämierte Regisseurin Robin Hauser sagt hierzu in ihrem Ted Talk The Likeability Dilemma for Women: „Modern day sexism is different than it was in the past [...]. Today’s sexism can be more subtle. Little nuances that might seem like no big deal to some but their impact can have the effect of a thousand cuts“ (2022). Daraufhin beschreibt sie die Unterschiede in der Wahrnehmung, die wir ohne schlechte Intention weiblichen Personen entgegenbringen.

In den Bereichen der Gender Studies und der Verhaltenspsychologie gibt es viel Forschung, die auf einen Doppelstandard hinweist, wie zum Beispiel von Rice (2013), Malmström, Johansson, Wincent (2017) oder Howe, Hardebeck, Eberhardt, Markus und Crum (2020). Diese Forschung besagt: Dasselbe Verhalten, dieselbe Praktik, derselbe Inhalt wird bei Frauen und marginalisierten Gruppen anders wahrgenommen, anders gelesen, bewertet und interpretiert.

Eine Start-up Gründerin aus unserem Umfeld beschreibt: „Ich erlebe es in Pitches immer wieder, dass ich erst nach meinen männlichen Kollegen angesprochen werde. Und dann so ein bisschen mit dieser ‘Ich prüfe jetzt mal, ob das Mäuschen nur Deko ist oder auch etwas Relevantes zu sagen hat’ Attitüde. Das ist eine schwierige Startposition und unangenehm. Sogar als selbstbewusste Frau strauchelt man da. Und dann heißt es: “Ja Männer halten den Druck vielleicht einfach besser aus.“

Ihre Beobachtung ist keine subjektive Einzelerfahrung, sondern systemisch einzuordnen. Auch wir, zwei Unternehmen, die nur mit weiblichen und non-binären Personen besetzt sind, haben Erfahrungen dieser Art gesammelt. Teresa, Kobold Mitgründerin, wurde insbesondere bei der Gründung und kurz danach häufig gefragt, wie es denn wäre, ein reines Frauenteam zu gründen oder nur mit Frauen zu arbeiten. Ob sie sich denn nicht viel anzicken, oder eine pragmatische Perspektive fehlen würde. Sie ist sich ziemlich sicher, dass 95% der von Männern geführten Start-ups diese Fragen noch nie gestellt wurde. Warum eigentlich nicht?

LÖSUNGEN MÜSSEN AUF INDIVIDUELLER, TEAM- UND INSTITUTIONELLER EBENE GEDACHT UND ENTWICKELT WERDEN

Aber auch vermeintlich positive Kommentare seitens des Netzwerks, der Kund*innen oder direkt aus der Community, markieren weiblich gelesene Gründer*innen als anders. So deuten Komplimente, die einen als mutige Frau oder eine Powerfrau einordnen, auch immer auf einen Status Quo hin, in dem die weibliche Gründerin die Ausnahme ist. Wer würde einen Gründer als mutigen Mann beschreiben? Die Gender-Komponente darf bei der gründenden weiblichen Person im Gegensatz dazu nie fehlen, sie ist ein wesentlicher Teil ihrer Identität.

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Denn auf der einen Seite würden wir uns so sehr wünschen, dass diese Kommentare überfällig wären. Es würde mehr zur Normalität gehören, als weibliche Person zu gründen. Andererseits bedarf es im aktuellen System, indem Frauen als Innovationsledaer nun mal nicht die Norm sind, Strukturen so zu ändern, dass sie es werden (können). Egal, ob als Gründer*in oder Produktmanager*in - Innovation kann aus verschiedenen Rollen heraus angestoßen werden. Wichtig ist, dass diejenigen, von denen sie ausgehen soll, sich sicher fühlen, ihre Ideen einbringen, gehört werden, Gelder bekommen. Dazu muss immer wieder an die Relevanz von Prozessen und Strukturen erinnert werden. Viele derzeitigen Bemühungen sind eher in einem individuellen Förderansatz verwurzelt, der einzelne weibliche Personen befähigen soll. Wir beobachten allerdings in unserer Arbeit sowohl selbst („ihr könntet auch mal einen seniorigen Mann an Eurer Seite gebrauchen“) als auch in unseren Beratungsprojekten, in denen wir Mitarbeiter*innen interviewen („ich werde hier einfach nicht ernst genommen“), dass das nicht reicht.

Stattdessen müssen Lösungsansätze auf individueller, kollektiver – auf der Team-Ebene – sowie auf institutioneller – auf Unternehmensebene – gedacht und umgesetzt werden. Und das allerwichtigste dabei ist es, sich jetzt, heute und keinen Moment später endlich damit zu beschäftigen. Vor allem all diejenigen, die sich als fortschrittlich und zukunftsfähig sehen. Einen Einstieg zeigen wir dir auf der nächsten Seite.

AUSBLICK: UND JETZT? WIE WEITERMACHEN?

Bewusstsein ist der erste Schritt. Das gilt sowohl beim Aufspüren von den eigenen internalisierten Glaubenssätzen, der Reflexion über Verhaltensweisen als auch im Hinblick auf eine gendergerechte Innovationskultur. Wenn du neugierig geworden bist, dich mehr mit deiner Arbeitskultur auseinanderzusetzen, diese mit deinem Team im Hinblick auf Innovationskultur und Gender zu durchleuchten oder einfach Lust hast, am Ball zu bleiben, besuche unsere Social Media Seiten. Du musst nicht alles alleine schaffen. Online findest du allerlei Tools, Materialien, Leseempfehlungen und vieles mehr.

ALLER ANFANG IST SCHWER.
LOS GEHT‘S MIT DIESEN 3 METHODEN FÜR DICH UND DEIN TEAM:

Es ist immer leicht, Kritik zu üben. Aus der Vielzahl der Themen, die hier oberflächlich auf einer Meta-Ebene angesprochen werden, wollen wir gern konkrete Praktiken ableiten. Dinge, die du tun kannst, um deine Methoden-Toolbox zu erweitern und Gender als Dimension mit aufzunehmen. Sie kommen direkt aus unserem Arbeitsalltag und beziehen jeweils die Kernkompetenzen von Kobold und IN-VISBLE mit ein.

1. Check In/Check-Out
—> für bessere Meetings

How to: Bei einem Check-In beantworten Teilnehmer*innen zu Beginn eines Meetings, Workshops oder Trainings ein oder zwei Fragen. Der Einstieg ist kurz und dynamisch und sollte nicht länger als 5-10 Minuten dauern, obwohl jede Person zu Wort kommt. Das gleiche Prinzip gilt für Check-Out Fragen am Ende des Meetings. Inspiration für Check-Ins gibt es viele im Internet; das Template oder die Online Version von Time2Talk sogar mit Bezug auf Gender.

Mehrwert: Teilnehmer*innen können im Meeting ankommen und sich auf das Thema fokussieren. Jede Person wird gehört und das gemeinsame Verständnis (füreinander) gefördert. Bessere Meetings und mehr Empathie führen zu einer besseren Zusammenarbeit.

Und jetzt mit Gender-Perspektive: Es gibt kein objektiv richtiges oder falsches Maß an Zeit, die eine Person während eines Meetings sprechen sollte oder nicht. Dennoch gibt es häufig eine ungleiche Verteilung der Redezeit in Bezug auf Gender (aber auch auf Alter, Hierarchie, Persönlichkeitstyp und vieles mehr). Wenn es um den Anteil der Redezeit geht, können die Wahrnehmungen der Teammitglieder stark voneinander abweichen. Ein Check-In kann also dazu genutzt werden, um mit sich selbst und den anderen in Kontakt zu treten und die Selbstwahrnehmung im Team und auf individueller Ebene zu schärfen. Denn wir alle brauchen unterschiedliche Dinge, um uns in einer Besprechung wohl zu fühlen und wollen uns vielleicht nicht in gleichem Maße beteiligen - und das ist in Ordnung. Dennoch glauben wir, dass Vielfalt eine Bereicherung für jedes Team ist - wenn man die Stärken der anderen kennt und sie zur Entfaltung kommen lässt. Die Reflexion der Redezeit ist ein guter Anfang.

2. Stakeholder-Research

How to: Methoden wie Interviews, Fokusgruppen, Persona oder Stakeholder-Map ermöglichen es die Personen zu identifizieren, die für das jeweilige Produkt, Service oder die jeweilige Strategie relevant sind. In einem nächsten Schritt werden die Lebensrealitäten und konkreten Bedürfnisse über einen empathischen Zugang zur Zielgruppe herausgearbeitet. Wichtig ist es, deine Annahmen über unterschiedliche Personengruppen festzuhalten und somit explizit zu machen, bevor du sie im Rahmen von quantitativen und qualitativen Befragungen validierst oder auch falsifiziert. Inspiration für Stakeholder-Mappings gibt es unter anderem auf Miro.

Mehrwert: Wer Innovation will, muss Empathie mit den Personen aufbauen, für die etwas entwickelt wird. Es geht darum, relevante Akteur*innen, ihre Verbindung zueinander zu visualisieren und ihre Wünsche und Motivationen zu verstehen.

Und jetzt mit Gender-Perspektive: Es lohnt sich, nochmal kritisch zu hinterfragen, wer als Nutzer*in mitgedacht wird – und wer nicht. Forscher*innen verweisen auf eine Gender Data Gap, also eine Gender Daten-Lücke, die unter anderem aus einem inhärent männlichen Prototyp eines Nutzers resultiert (World Economic Forum, 2022). Produkte und Dienstleistungen werden für einen vermeintlich neutralen Menschen designed, der*die aber eigentlich männlich ist. Auf Basis dieser Situation werden Daten zum Nutzungsverhalten erhoben, welches wiederum in einer Datenlage resultiert, die wenig Informationen über Frauen – und noch weniger über gender-marginalisierte Gruppen abbildet.

Methoden wie Design Thinking entwickeln sich derzeit von einem Nutzer*innen-zentrierten Ansatz zunehmend zum “Life-centred Design” weiter, um auch die Auswirkungen von Ideen und Produkten auf das gesamte Ökosystem nachvollziehen und evaluieren zu können. Verantwortungsbewusste Innovation denkt eben nicht nur die mit, für die ein Produkt entwickelt wird (Nutzer*innen), sondern bildet im besten Fall auch die systemische Auswirkung ab, um zu entscheiden, ob diese einen positiven Mehrwert hat (und für wen).

3. Perspektivwechsel - In the Shoes of

How to: Es gibt kaum ein Innovationsprojekt, das ohne Brainstormings auskommt. Das Ziel: Neue und ungewöhnliche Ideen als Team zu entwickeln. Du wendest die Methode In the Shoes of auf eine vorab definierte Fragestellung an und versuchst dabei, die Perspektive einer anderen Person einzunehmen.

Inspiration für weitere Brainstorming Methoden findest du hier.

Mehrwert: Dieser Trick hilft uns, Ideen außerhalb der gewohnten Strukturen und Denkweisen zu entwickeln. Die Kreativität wird dadurch geweckt, dass du das Brainstorming aus der Perspektive einer anderen (berühmten oder extremen) Person oder Organisation durchführst.

Und jetzt mit Gender-Perspektive: In the Shoes of ist eine super Möglichkeit, Empathie mit unterschiedlichen Personen aufzubauen, die anders situiert sind, als du. Klassischerweise nutzt du hierfür berühmte Persönlichkeiten oder Superheld*innen, die viele Menschen erreichen können, eine interessante Eigenschaft besitzen oder besonders hohen gesellschaftspolitischen Einfluss haben. Typischerweise fallen hierbei Namen wie Elon Musk, Steve Jobs und Batman. Ups – es lohnt sich, nochmal drüber nachzudenken. Falls du hierbei zugeben musst, dass du auf deutlich weniger weibliche Vorbilder zurückgreifen kannst, findest du hier Inspiration.

Darüber hinaus kannst du In the Shoes of beliebig iterieren, sodass dein Team bewusst aus der Perspektive von Personengruppen brainstormed, deren Perspektive sonst nicht genügend berücksichtigt wird. Dieser Blickwinkel kann neben neuen Ideen auch in einem geschärften Problemverständnis resultieren. Wichtig: Es gibt selbstverständlich Grenzen, des sich in Andere Hineinversetzens; die Brainstorming-Methode ist ein spielerischer Ansatz, um über den Tellerrand zu schauen.

... Und wenn dir das nicht reicht und du gern mit uns persönlich sprechen willst, denk bitte nicht zweimal drüber nach. Kontaktiere uns einfach und wir besprechen deine Gedanken und wie wir dich unterstützen können. Wir freuen uns, von dir zu hören.

-Nora von Kobold und Rea von IN-VISIBLE.

Hier nochmal unsere Kontakt-Adressen:

Rea: hi@in-visible.berlin

Nora: mail@kobold.berlin

Wir vermuten, dass sich die üblichen Verdächtigen von Gendergerecht Innovieren angesprochen fühlen und hier reinlesen. Danke dafür! Noch besser wäre es aus unserer Sicht, wenn diese Seiten auch von Menschen gelesen werden, die sich noch wenig oder gar nicht mit Innovation und Gendergerechtigkeit beschäftigt haben. Leite Gendergerecht Innovieren doch einfach mal weiter.

LITERATURVERZEICHNIS

Allbright Stiftung (2017). Der Neue AllBright-Bericht: „Ein ewiger Thomas-Kreislauf?“
Berry, Alex (2021, 14. April). Pinky Gloves: German team slammed for ‚stigmatizing‘ periods. Deutsche Welle. https://www.dw.com/en/pinky-gloves-german-team-slammed-for-stigmatizing…
Bohnet, Iris (2022). Dass Leistung entscheidend für die Karriere ist, ist ein Mythos. ZEIT.
Hauser, Robin (2022). The likability dilemma for women leaders. TED. https://www.ted.com/talks/robin_hauser_the_likability_dilemma_for_women…- script?language=en
Howe, Hardebeck, Eberhardt, Markus and Crum (2020). White patients’ physical responses to healthcare treatments are influenced by provider race and gender. https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.2007717119
Malmström, Malin; Johansson Jeaneth and Wincent, Joakim (2017). Gender Stereotypes and Venture Support Decisions: How Governmental Venture Capitalists Socially Construct Entrepreneurs’ Potential.
Nittrouer, Christine; Hebl, Michelle; Ashburn-Nardo,Leslie; Trump-Steele Rachel; Lane David M; Valian, Virginia (2017). Gender disparities in colloquium speakers at top universities.
Pariser, Eli (2011). Filter Bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden. Aus dem Amerikanischen von Ursula Held. Hanser, München.
Rice, Curt (2013). How blind auditions help orchestras to eliminate gender bias. https://www.theguardian.com/women-in-leadership/2013/oct/14/blind-audit…
Ryland, Naomi/Jaspers, Lisa (2020). Starting a Revolution, 2, Aufl., Berlin, Deutschland.
Teare, Gené (2020). Global VC Funding To Female Founders Dropped Dramatically This Year. https://news.crunchbase.com/venture/global-vc-funding-to-female-founder…
World Economic Forum (2021). Why venture capital should commit to gender balance. https://www.weforum.org/agenda/2021/07/venture-capital-commit-gender-ba…
World Economic Forum (2022). Global Gender Gap Report. https://www.weforum.org/reports/global-gender-gap-report-2022/

***

Herausgegeben von IN-VISIBLE GmbH und Kobold.

IN-VISIBLE ist eine Agentur für gleichberechtigte Arbeitskultur. Wir unterstützen Organisationen dabei, Gleichstellung voranzutreiben und Arbeitskultur inklusiv zu gestalten. Warum? Damit Diskriminierung keinen Platz (mehr) hat und Organisationen eine Atmosphäre schaffen, in der alle Mitarbeitenden ihr Potenzial einbringen können. In diesem Vorhaben vereinen wir akademische, politische, wirtschaftliche und aktivistische Perspektiven, geben Workshops, Trainings und beraten individuell.

Kobold ist eine Beratung für Purpose Design und Innovation, das heißt: Wir stellen Fragen und entwickeln Lösungen hin zu mehr Nutzer*innen-Zentrierung, Agilität und Purpose-Orientierung. Am liebsten machen wir das mit unseren Kund*innen gemeinsam. Denn Ideen und Veränderungen entfalten dann ihre Kraft, wenn sie im kollaborativen Austausch entstehen und wachsen. Dazu gehört, dass alle involvierten Personen gleichermaßen partizipieren können.