Wachstumsschmerzen

Wie können Gründer*innen ein schnell größer werdendes Team so leiten, dass sie nicht der Dreh- und Angelpunkt jedes Ablaufes sein müssen?

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by Anika Redmann, Impact Collective, June 15, 2020

Header: Tyler Nix via Unsplash.

Den Traum von der erfolgreichen Skalierung träumen viele Start-ups. Besonders im sozialen Sektor fühlt es sich toll an, wenn Lösungen nachhaltig etwa in ganz Deutschland angeboten werden können. Bei den Bildungsprofis scheint das zu klappen: Ihre Kernkompetenzen, nämlich Menschen zu qualifizieren und zu vermitteln, lassen sich gut auf immer neue, größere Projekte übertragen. Was bedeutet dieses rasante Wachstum allerdings für das Team? Wie schafft man es als Gründer*in, die eigenen Kompetenzen und Intuition an alte und neue Kolleg*innen weiterzugeben, damit alle gut mitarbeiten können? Was kann man als Teammitglied von der Leitung erwarten?

“Wir reiten auf einer Welle”, lacht Petra Rahn. Das Start-up Bildungsprofis, das Holger Strehlau und sie 2018 gegründet haben, ist einen weiten Weg gekommen: Von vier Mitarbeiter*innen auf 15 in unter zwei Jahren. Die Grundidee der Bildungsprofis ist dabei gleich geblieben: Menschen bei der Qualifizierung zu unterstützen und in Jobs zu vermitteln. Ursprünglich bietet das Start-up speziell auf Berufe im Pflegesektor zugeschnittene Weiterbildungen an. Im Kontakt mit dem Markt wurde dann klar: Dieses Konzept wird an vielen Stellen gebraucht, das Produktportfolio erweitert sich. Ein Traum für viele Start-ups: Zu wachsen und sich neue Themen und Märkte zu erschließen, ohne bei jedem neuen Projekt bei Null anfangen zu müssen. “Die Inhalte ändern sich, die Formate ändern sich, aber im Wesentlichen geht es darum, dass Menschen mit nicht vollkommenen Kompetenzen sich beruflich vervollständigen können”, erklärt Holger Strehlau. So verstärken die Bildungsprofis mit der Zeit ihren Fokus auf Sprachkurse und erweitern ihr Angebot zum Beispiel um eine Online-Akademie für Digitalkompetenzen. 

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Der Erfolg ist auch auf die Professionalität und den Erfahrungsschatz der beiden Gründer*innen zurückzuführen. Holger arbeitet schon lange im Bereich Krankenhäuser und bemerkt insgesamt eine steile Lernkurve dieser Branche, die eine Offenheit gegenüber innovativen Kooperationen mit sich bringt. Petra ist Expertin für Weiterbildung und Arbeitsmarktintegration. Gemeinsam haben sie ein Netzwerk, dass die Vermittlung von Kandidat*innen genau wie die Entwicklung und Diskussion von neuen Projektideen ermöglicht. So konnten die beiden gemeinsam mit einem wachsendem Team die Idee Bildungsprofis weiterentwickeln. 

Diese Weiterentwicklungen bedeuten auch, dass in der projektbasierten Arbeit, die von befristeten Auf- und damit auch Verträgen und ständiger Unsicherheit geprägt ist, Mitarbeiter*innen langfristig angestellt bleiben können. Das ist in der oft schlicht prekären Welt des sozialen Unternehmertums Gold wert, hat jedoch auch einen Preis: “Ich glaube, dass unsere Mitarbeitenden schon sehen, dass wir auch wachsen, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Auf der anderen Seiten sehen sie auch, dass der Abstand zwischen Petra und mir auf der einen Seite und den Mitarbeitenden auf der anderen Seite naturgemäß dementsprechend auch größer wird”, sagt Holger. 

Aus Wachstum folgen Lücken?

Start-ups zeichnen sich vor allem in der Anfangszeit durch sehr eng gestrickte Teams aus, in denen alle ein bisschen was von allem machen und Abstimmung und Übergaben oft durch einen Ruf über die Schulter erledigt werden. Aufgaben und Bereiche werden auch mal geteilt, jede*r packt an, wo es nötig ist. Diese Atmosphäre begeistert viele. Die Gründer*innen sind darin immer auch die Expert*innen, die man sein muss, um etwas zu starten. “Ich sehe schon meine Leidenschaft in der Entwicklung der Ideen und eher weniger im Operativen, also dem Team in jeder Frage zur Seite zu stehen”, betont Petra. 

Sie und Holger ziehen die neuen Projekte und Kund*innen an Land. Jedoch sie sind auch von Anfang an dabei und so Expert*innen für das operative Tagesgeschäft. Die beiden Chef*innen verstehen es, sich  Herausforderungen hochdynamisch anzupassen. Ihre Erfahrung und ihr Netzwerk erlaubt es ihnen, etwa die Situationen und Potentiale ihrer Teilnehmer*innen blitzschnell einzuschätzen und aktiv zu werden. Als neues Teammitglied ist es nicht einfach, diese Prozesse nachzuvollziehen und die eigene Arbeit ähnlich zu gestalten. Wenn alle mitgenommen werden sollen, kann das Operative nicht nur auf Instinkten und persönlichen Netzwerken beruhen. Die richtige Checkliste  am richtigen Ort und das geteilte Wissen über die nächsten Schritte ermöglicht es auch weniger erfahrenen Kolleg*innen, nicht ständig nachfragen zu müssen. Sébastien Martin, der die Bildungsprofis im Rahmen des Accelerators von Impact Collective coacht, erklärt: “Die Frage ist die: Wie kann man Improvisationsgeschick und Erfahrungswissen in eine Organisation vermitteln, damit sie am Ende des Tages selber Standards schaffen kann? Wie kann man ein einheitliches Qualitätsverständnis, wie es gerade im Impact-Bereich sehr wichtig ist, entwickeln? Und wie kann man das übersetzen in Prozesse, die für alle machbar sind und mit denen alles Hand in Hand geht?”

Ein Teil des Teams der Bildungsprofis

Die Herausforderung des Wachstums ist es, sich von den Strukturen der Anfangszeit zu lösen und neue zu entwickeln: Wo am Anfang die Gründer*innen den Überblick und das Wissen haben, jede noch so kleine Entscheidung zu treffen oder abzunicken, ist das mit größeren Aufgabenbereichen nicht mehr möglich. “Das ist dann das hohe Ziel der Skalierung: Aus einem unstrukturierten Produkt, bei dem man noch viel mit Handarbeit improvisieren muss, herauszuarbeiten, was standardisiert werden kann”, beschreibt es Sébastien. Petra: “Die größte Herausforderung ist es, Strukturen so aufzusetzen, dass sie übertragbar sind. Dann hängt es nicht mehr so an den einzelnen Personen, die am Anfang zentral sind. Führung wird wichtiger.”

Stabile Wurzeln

Gute Leitung kann bedeuten, dass die Stellenbeschreibungen festgelegt sind und dass den Mitarbeitenden alles an die Hand gegeben wird, was sie brauchen, um diese zu erfüllen. Leute, die neu eingestellt werden, aber auch die Teile des Teams, die seit dem Anfang dabei sind, brauchen eine genaue Tätigkeitsbeschreibung. Es müssen Rollen entwickelt und verteilt werden, die es so am Anfang nicht gab. Das kann für alte Hasen ungewohnt sein. Und nicht nur die Mitarbeitenden müssen wissen, wer sie im Team sind, auch die Leitung sollte wissen, wer sie als Chef*in ist. Die Bildungsprofis üben sich im situativen Führen: so verschieden Teammitglieder sind, so verschieden ist auch gute Führung. Manche brauchen Bestärkung und Motivation, andere eher mehr Wissen und neue Kompetenzen. So kann man als Chef*in die passenden Bedürfnisse erfüllen, wenn man im Blick hat, welches Teammitglied gerade an welcher Aufgabe arbeitet - und was er*sie von der Leitung noch braucht. Das ist oft auch die Klarheit darüber, wie, wann und an wen die Übergabe der eigenen Arbeit passiert oder wer die*der Anprechpartner*in im Team ist. 

Solche Entwicklungen gehen nicht von heute auf morgen und brauchen oft den Blick von außen. Die Bildungsprofis werden im Rahmen des Impact Accelerator-Programms von der Mentorin Barbara Börner beraten. “Wir sind noch dabei, zu sortieren und Abläufe zu schaffen. Der Idealfall ist, dass die erarbeiteten Strukturen schnell eingehalten werden, weil wir ja weiter wachsen wollen”, erklärt Petra. “Dafür brauchen die Bildungsprofis Organisationsentwicklung. Wenn es klappt, dass die Mitarbeiter*innen die operativen Prozessschritte und Übergaben selbst machen können, dann wird die Geschäftsführung nur noch in besonderen Fällen gebraucht”, berichtet Sébastien. “Alle Start-ups haben dieses Problem. Sie müssen es schaffen, ihre Kernkompetenzen, das, was sie ausmacht, in die Organisation zu tragen. Das Team als Ganzes setzt dann eigenverantwortlich entsprechende Prozesse auf und verfolgt  ein transparentes Qualitätsverständnis.”

Wenn gemeinsam erarbeitete Prozesse und Vorstellungen über die Produkte klar sind und nicht jedes Mal ausgehandelt werden müssen, hat die Leitung den Kopf frei, um am Unternehmen statt im Unternehmen zu arbeiten. Die Mitarbeitenden wiederum können selbstwirksam neue Projekte übernehmen. So schließen sich die Lücken zwischen Leitung und Team, während alle gleichzeitig den Raum haben, den sie zum guten Arbeiten brauchen. Das ist nicht unbedingt ein leichter oder irgendwann abschließbarer Prozess, doch wie Holger zusammenfasst: “Mit interner Kraft und externer Unterstützung kann Wachstum nahezu schmerzfrei ablaufen. Wir freuen uns auf die nächsten kleinen und großen Herausforderungen.”