Eine Organisationspyramide als Paradigma vermittelt Beständigkeit. Sie soll sicherstellen, dass alles so bleibt wie bisher. Wir erleben, dass stark hierarchische geprägte Unternehmen und Organisationen an ihren Herausforderungen zu scheitern scheinen. Am Beispiel der katholischen Kirche oder an unserem Schulsystem erkennen wir, dass bürokratische Prozesse Veränderungen und Innovation in der Verwaltung und der Lehre so stark ausbremsen, dass eine Anpassung an gesellschaftliche Entwicklungen schier unmöglich schein. Sind die Kirche und unser Schulsystem Beispiele für die Zukunft veränderungsresistenter Organisationen und Unternehmen? Und wie können Organisationen auf die rasante Weiterentwicklung unserer (VUCA*)-Umgebung anpassen?
Aus aktuellen Beobachtungen lässt sich die folgende Arbeitshypothese ableiten, die in dieser Artikelserie untersucht werden soll: Klassisch hierarchisch geführte Organisationen sind eine angemessene Organisationsform, um Armeen zentral zu dirigieren. Darüber hinaus haben sie ausgedient.
Zunächst ist es interessant hinter die Kulissen hierarchisch geführter Unternehmen zu schauen: Hierarchie nimmt Komplexität aus Organisationen heraus; sie vereinfacht. Und sie geht davon aus, dass es einige sehr smarte Menschen, ja Genies gibt, welche die Komplexität der Welt verstehen und beherrschen. Auf der anderen Seite bedeutet dies, dass viel mehr Menschen, wie zur Zeit der ersten industriellen Revolution, standardisierte Aufgaben automatisiert abarbeiten. Aufgaben also, die heute häufig von Robotern übernommen werden. Während sich die Aufgaben der MA und die Produktionsschritte verändert haben, blieb die Art der Führung gleich. Zeitgleich beschwören wir die Wichtigkeit smarter Mitarbeiter. Ein Paradox. Doch wie lässt sich dies auflösen?
In Hierarchien ist Verantwortungsübernahme zumeist Chef:innensache. Die Motivation der Arbeit fußt auf dem Konzept der Beförderungen. Ein wesentlicher Motivator stellt die nächste Stufe der Karriereleiter dar. Monetäre Anreizsysteme wie eine Gehaltserhöhung sind dabei wesentliche Instrumente, die in traditionellen Organisationsformen zur Weiterentwicklung von Mitarbeiter:innen versprochen werden. Ihre Schnelllebigkeit und der Abnutzungsfaktor sind dabei groß. So titelt die Wirtschaftswoche „Gehaltserhöhungen verpuffen schnell“. Das sogenannte Ersterin-Paradox stellt dar, dass mehr Reichtum nicht zu mehr Lebenszufriedenheit führt. Sind die Grundbedürfnisse erst einmal gestillt, steigt das Glück bei mehr Gehalt nicht weiter an. Esterin‘s Studien zeigen, dass die Lebenszufriedenheit u.a. in Ländern mit geringeren Einkommen nicht unter der von „reicheren Ländern“ liegt.
Nicht zuletzt wird auch die Fluktuation durch traditionelle Unternehmensformen beeinflusst. Heute zeigt sich, dass die Bereitschaft einen Job zu wechseln noch nie zuvor so hoch war, wie in unserer aktuellen Zeit (Gallup, 2022). Die Wechselbereitschaft in Deutschland übersteigt erstmals die der USA. Stress ist dabei ein wesentlicher Faktor, denn mehr als jede:r dritte Arbeitnehmer:in fühlt sich aktuell ausgebrannt.
Selbstverwirklichung spielt eine wesentliche Rolle in Bezug auf Mitarbeiter:innenzufriedenheit. Durch die Vereinfachung der Organisationsform in ein hierarchisches Konstrukt, werden Möglichkeiten aus der Organisation herausgenommen, die ein freier Aufbau ermöglichen würde. Stärken von Mitarbeiter:innen, die in einer freien Organisationsaufbau Anklang finden, werden durch starre Hierachien nicht automatisch in das Unternehmen eingebracht. Durch die Vorgaben in einer Hierachie, muss sich das Individuum auf gewisse Rollen und Aufgaben beschränken. Ein besonders eindringliches Beispiel ist hier die Pflegebranche. Hier gibt es in der Zentrale, d.h. in der Hierarchie weiter oben, Personen, die anhand von Zahlen und Daten Schichtpläne und Behandlungszeiten für die Pfleger:innen vorgeben, ohne dass die Pfleger:innen individuelle Bedürfnisse der Patient:innen berücksichtigen können. Dies führt zu hoher Unzufriedenheit bei den Pfleger:innen und auch bei Patient:innen.
Heute müssen Teams die Fähigkeit und Möglichkeit erhalten, eigenständig zu arbeiten, um agil auf Veränderungsprozesse zu reagieren. Organisationen kommen nicht darum herum anzuerkennen: Die Bedingungen, in denen wir leben, ändern sich ständig und in ungeheurer Geschwindigkeit.
„Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung.“ – sagte schon Heraklit von Ephesos (um 535 - 475 v. Chr.). Dieser Vorsatz lässt sich im Kleinen auf Projektarbeit im Unternehmen übersetzen, denn besonders im Bereich hoher Innovationskraft, ist die Zielsetzung zu Beginn noch unklar. Deshalb stellen wir uns die Frage, warum Agilität in vielen Unternehmen eine immer wichtigere Rolle spielt, die Unternehmensorganisation allerdings erst zuletzt mitgedacht wird?
Nicht-hierarchisch organisierte Unternehmen können auf das Wissen aller Mitarbeiter:innen zurückgreifen, es bündeln und nutzen. Das Phänomen der Schwarmintelligenz zeigt, dass die Erfahrung unterschiedlichster Menschen in einem Unternehmen gebündelt schnellere und bessere Lösungen hervorbringen. Das Unternehmen Buurtzorg bietet uns ein prima Beispiel für den Erfolg von selbstorganisierten Teams. Die Pflege-Teams bei Buurtzorg erstellen ihre Dienstpläne selbst, entscheiden selbst über die Behandlung und die Zeit, die sie bei Patient:innen verbringen. Folgen davon? 30% Prozent der Einweisungen in Notaufnahmen werden vermieden, weil die Pfleger:innen die Patient:innen so gut kennen und Probleme früh bemerken. 40% Kosteneinsparung für das Gesundheitssystem. 8,7/10 in der Mitarbeiter:innenzufriedenheit.
Das zugrunde liegende Menschenbild in nicht hierarchischen Unternehmensformen unterscheidet sich maßgeblich im Vergleich zu klassischen Unternehmensformen: Wenn ich mir der Auswirkungen meines Handelns bewusst bin, die Konsequenzen für das Unternehmen und somit auch meinen Arbeitsplatz kenne, handele ich verantwortungsvoll.
Das gegebene Vertrauen lässt Menschen wachsen und ihre Leidenschaft, auch im Beruf, ausüben. Die Trennung meines Selbst in der Arbeitswelt und im Privaten wird aufgelöst. Somit haben alle Mitarbeiter:innen die Chance Ideen umzusetzen und das Unternehmen ein Stück weit mit den eigenen Werten abzugleichen.
Selbstverständlich ist, dass jede Unternehmensform Vor- und Nachteile beinhaltet. Sie bringt ihre eigenen Herausforderungen mit. Das Konzept von Teal-Organisationen, welches Frédéric Laloux in seinem Werk „Reinventing Organization“ vorstellt, bietet Unternehmen Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit und stellt gleichzeitig eine neue Aufgabe an CEO’s und Entscheidungsträger:innen, denn es erfordert Mut. Mut zur Veränderungen, Mut darin zu vertrauen, dass Mitarbeiter:innen volle Verantwortung übernehmen können. Mut, Entscheidungskompetenz und Statussymbole abzulegen, in dem Wissen, dass wahres Glück nicht durch sie verwirklicht werden kann. Der klassischen Karriereweg, wie wir ihn kennen, wird durch Teal dem Rücken zugekehrt.
In dieser Artikelserie wollen wir Menschen das Teal-Konzept vorstellen, in dem Glauben, dass sozio-ökonomische Systeme der Evolutionsstufe unserer Gesellschaft angepasst werden müssen. Verschiedenste Studien weisen darauf hin, dass traditionelle Formen von hierarchischen Unternehmen ausgedient haben. Wir wollen durch das Teilen unserer Erfahrungswerte Anderen Mut machen, sich in neue Paradigmen der Organisationsentwicklung zu trauen und zeigen, dass es das vermeintliche Risiko wert ist.
*"VUCA" ist ein Akronym, das sich auf "volatility" ("Volatilität"), "uncertainty" ("Unsicherheit"), "complexity" ("Komplexität") und "ambiguity" ("Mehrdeutigkeit") bezieht. Damit werden vermeintliche Merkmale der modernen Welt beschrieben.
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In dieser Kolumne, die gemeinsam mit enableYou entstanden ist, schreiben wir über die zahlreichen Facetten des TEAL-Konzepts, welches von Frederic Laloux geprägt und in seinem Buch „Reinventing Organisations“ ausführlich vorgestellt wird. Dabei erzählen wir in unserer Kolumne von unseren Erfahrungen und best-practices, zeigen auf, warum es neue Paradigmen im Management braucht und erörtern, wieso TEAL unserer Meinung nach eine Lösung für momentane Herausforderungen sein kann. In den kommenden sechs Beiträgen teilen wir unsere praktischen Erfahrungen über das selbstorganisierte Arbeiten und geben einen tieferen Einblick in den evolutionären Sinn von TEAL-Organisationen und die Verbindung zum Feminismus. Durch die neuen Perspektiven wollen wir dazu einladen und inspirieren, traditionelle Organisationsstrukturen zu überdenken und Mut geben, neue Konzepte, wie TEAL, auszuprobieren.
Unsere Kolumnisten sind Andreas Kraus, Kathrin Kastel und Alexandra Wudel. Andreas hat enableYou 2020 gegründet und hat es sich zur Aufgabe gemacht, menschenzentrierte Management-Paradigmen, wie Teal, in die (Arbeits)Welt zu tragen. Alexandra arbeitet als Agile Coach in der Politik. Außerdem arbeitet sie seit vielen Jahren als kritische Stimme im Bereich Wirtschaft und Technologie. Kathrin arbeitet als IT-Business Analyst mit einer Leidenschaft für Menschen und New Work in KMUs.