Verzweiflung, Wut & Schmerz: Unbequem und unentbehrlich

Warum wir unsere Gefühle brauchen, um unseren Job gut & die Welt besser zu machen.

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von Ing Holzmayer, November 27, 2024
Frau, Wut

Ich habe kapituliert. Seit dem Sommer schleppe ich mich durch mein Leben, ich coache, mache Reproarbeit, trinke jeden Morgen mit meinem Beziehungsmenschen Kaffee, treffe Freund:innen, gehe auf Demos, schlendere durch die Biennale … und ich merke die ganze Zeit, dass etwas nicht stimmt. Dann werde ich krank. Anfang November sage ich alles, was möglich ist, ab, und gehe in den Wald. Da platzt der Knoten. Stundenlanges Weinen, dann wird es still in mir. Ich esse und schlafe. Die Welt ist bei mir gelandet und damit auch das ganze Ausmaß an Wut, Verzweiflung, Trauer und Hilflosigkeit. Nachdem sie monatelang in kultivierten Dosen von mir verarbeitet wurden, haben sie sich jetzt breitgemacht in mir. Ich wusste die ganze Zeit, dass das anstand und nötig war und ich hatte mich trotzdem verweigert. Jetzt fühlt es sich wieder kohärent an. 

Dieses ‚Reinnehmen‘, all unserer unangenehmen Gefühle ist etwas, was nötig ist, um den Wandel anzugehen, den es jetzt braucht, um unseren Job gut & die Welt besser zu machen. Warum?

Emotionale Feedback-Loops: Dynamische Kreisläufe für eine bessere Welt

In der Systemtheorie sind Feedback-Loops entscheidend für das Gleichgewicht lebender Systeme. Diese dynamischen Rückkopplungsschleifen funktionieren wie eine ständige Antwort auf Abweichungen vom Kurs: Wir driften ab, bemerken dies, reagieren und finden zurück in die Balance. Durch solche Mechanismen bleiben lebende Systeme – von Individuen bis hin zu ganzen Ökosystemen – in einem stabilen Zustand, der Anpassung und Wachstum ermöglicht. Wenn wir als Gesellschaft vom Kurs abkommen, senden uns unsere inneren Alarmsysteme wichtige Signale. Wir spüren Ärger, wenn Ungerechtigkeit überhandnimmt, Trauer, wenn Menschen, Arten und Lebensräume verschwinden, Schmerz und Wut, wenn Menschen verfolgt, unterdrückt, inhaftiert, vertrieben  werden. Diese Emotionen sind Anzeichen, dass etwas nicht stimmt – sie sind das Feedback, das wir brauchen, um uns neu auszurichten und effektivere und nachhaltigere Wege zu finden.

Die neue Führungskompetenz: Trauer, Verzweiflung, Wut und Hilflosigkeit halten

Wir brauchen unsere emotionalen Antworten auf den Zustand der Welt. Wir sind mit allem verbunden und dieses Wissen um unsere „Interconnectedness“ ist zwar theoretisch salonfähig geworden, hat aber immer noch ein bisschen „Spirimief“. Ganz zu unrecht.
Bei uns allen, egal in welchem Job wir genau arbeiten, geht die Verbindung zur Welt und zu den Mitmenschen tief. Wir sind soziale Wesen, das ist biologisch angelegt und lange kultiviert. Angelegt ist auch bei vielen von uns ein großes Verantwortungsgefühl und eine besondere Verletzlichkeit gegenüber den Missständen, die wir bezeugen, von denen wir lesen und die wir zu beheben versuchen. Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit sind oft unsere ständigen Begleiter, auch wenn wir versuchen, sie unter der Oberfläche zu halten. Doch anstatt das zu machen, sie wegzuschieben oder zu ignorieren, uns zu betäuben und abzulenken, können wir lernen, sie als Ausdruck unserer tiefen Verbundenheit mit der Welt zu sehen. Diese Gefühle zeigen uns auf, wo Handlungsbedarf besteht und wo wir gebraucht werden. 

Der innere Wandel: Emotionen als Transformationskraft

Starke Emotionen wie Wut und Verzweiflung tragen also ein mächtiges Potenzial in sich. Wenn wir lernen, diese Energien zu verstehen und bewusst zu lenken, können sie zu einer treibenden Kraft werden. Der erste Schritt liegt darin, diese Gefühle nicht länger als „negativ“ oder störend anzusehen. Vielmehr können wir sie als Hinweise deuten, die uns auf eine tiefere Ebene unserer eigenen Resilienz und Motivation führen. Anders ausgedrückt: Stress, Angst, Unruhe, Trauer und Verzweiflung sind unsere gesunde Reaktion auf Hunger, Niederschlagung feministischer Aufstände, Minderheitenverfolgung, Klimawandel, Nahost-Krieg, USA-Wahl , you-name-it. 

Die Arbeit von Joanna Macy: „The Work that Reconnects“

Joanna Macy, eine US-amerikanische Aktivistin, hat dazu schon vor rund 30 Jahren eine Methode entwickelt. Sie nennt sie „The Work that Reconnects“. Diese Arbeit basiert auf genau dieser Überzeugung: dass Weltschmerz und Verzweiflung über den Zustand der Erde kein persönliches Problem ist, sondern eine wichtige Reaktion auf die Zerstörung, die um uns herum stattfindet. Die Methode lädt Menschen dazu ein, ihre Gefühle von Angst, Trauer, Wut und Schuld gegenüber der Welt anzuerkennen und zu erfahren, dass diese Gefühle nicht isoliert oder individuell sind, sondern Ausdruck eines „Schmerzes für die Welt“ – einer Art mitfühlender Verbundenheit mit allem Leben. 

Und wie geht das jetzt genau? Mit dem Fühlen?

Da kommen wir an einen Punkt, wo es interessant ist. Denn wir müssen beginnen etwas zu tun, was wir in der Regel nicht tun. Zu fühlen. Ohne ein Narrativ daraus zu machen.  Ohne in Empörung, jammern, haten zu verfallen. Ohne direkt zu denken: „Was sollte ich jetzt tun?“ Das klappt für viele von uns gut in der Natur und gemeinsam mit anderen. Das bedeutet, das eine oder andere soziale Protokoll zu verändern. Sich zum Fühlen verabreden. Anderen unseren Schmerz und unsere Verzweiflung zu zeigen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass so viel von dem was wir tun, Leid auslöst und Schaden anrichtet, dass wir alle darauf trainiert sind, dies auszublenden. Wir brauchen Ambiguitätstoleranz und Mut, zu fühlen und uns damit uns selbst und anderen zuzumuten. Wir können einfach: anfangen und es in guter Gesellschaft lernen (siehe Link unten).

Der Weg zur inneren Stärke und kollektiven Kraft

Indem wir unsere unangenehmen Gefühle als Bereicherung sehen und lernen, sie produktiv zu nutzen, stärken wir nicht nur uns selbst, sondern auch die Menschen um uns herum. Schmerz und Verzweiflung werden so zur kollektiven Kraft. Unsere Gefühle sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Motivation und unserer Fähigkeit, echte Veränderung zu bewirken. Wenn wir sie bei uns behalten, statt sie zu verdrängen, werden sie zu unserer Kraftquelle. So entwickeln wir eine widerstandsfähige und empathische Art der Führung und Selbstführung, die den Herausforderungen der heutigen Zeit gewachsen ist. 

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Über die Autorin

Ing Holzmayer

Ing ist Mentorin für Selbstführung & Krisensouveränität und Beziehungscoach. Sie begleitet Menschen, die die Welt zu einem besseren Ort machen, sowie Teams und Führungskräfte durch transformative Prozesse. Sie empfindet ihre Arbeit als besonders wertvoll, wenn Menschen sich spüren, dabei Komplexität annehmen, weiter durchdringen und sich dabei Perspektiven öffnen, die vorher nicht möglich schienen. In ihrem Programm REGENERATE lernen Menschen, ihr inneres und äußeres Team aus ihrer vollen Kraft zu führen und dabei in ihre entspannteste Version zu kommen. 

Vom 8. bis 12. Dezember bietet Ing eine “Self-Leadership Intensive” für 0 Euro an - jeden Tag eine Stunde Life-Zoom-Call zum Kennenlernen ihrer Arbeit und des Programms. Du bekommst dort erste Übungen und entwickelst einen kleinen eigenen 'Fahrplan'.

Webseite: www.ingholzmayer.com