querstadtein – Berlin anders sehen bietet autobiographische Stadtführungen aus der Perspektive obdachloser und geflüchteter Menschen an. Sally Ollech, Co-Gründerin von querstadtein, blickt nach Übergabe der Geschäftsführung zurück und teilt ihre Erfahrungen, die sie beim Aufbau des Sozialunternehmens gemacht hat.
Die Gründung
Wo ist der obdachlose Mann, der jeden Morgen vor unserem Bürogebäude am Potsdamer Platz stand und dann plötzlich verschwunden war? Wo sind all die sichtbaren Unsichtbaren? Es gibt wenige Orte, an denen Menschen mit und ohne festen Wohnsitz ins Gespräch kommen können. Wenn man einander nicht wahrnimmt, verliert man den Blick füreinander.
In Kopenhagen (Gadens Stemmer), London (Unseen Tours) und Hamburg (Nebenschauplätze) gab es bereits Stadtrundgänge aus der Perspektive von obdachlosen Menschen – wir wollten in Berlin an einem solchen Rundgang teilnehmen, aber fanden kein entsprechendes Angebot. Das war der Impuls, es selbst ins Leben zu rufen: Im Sommer 2012 gründeten Katharina Kühn und ich querstadtein, holten die Idee der Stadtführungen aus der Perspektive ehemals obdachloser Menschen nach Berlin und erweiterten den Ansatz um eine zweite Stadtführergruppe: Geflüchtete Menschen.
querstadtein will Begegnungsräume schaffen. Teilnehmende können direkt ihre Fragen stellen: zum Leben auf der Straße, dem wie und warum oder aber zu der Fluchtgeschichte und dem Ankommen in Deutschland. Der Austausch verändert den eigenen Blick auf die Menschen und die Stadt in der wir gemeinsam leben. Für die Stadtführer*innen bietet die Arbeit bei querstadtein eine Zuverdienstmöglichkeit sowie einen beruflichen (Wieder-) Einstieg. Bei uns wird nicht über sie gesprochen, sondern sie kommen selbst zu Wort. Und nicht zuletzt erfahren sie Anerkennung und Wertschätzung. Denn: „Auf der Straße wirst du unsichtbar“, erzählte unser erster Stadtführer Carsten Voss, „die Menschen schauen durch dich durch“.
Nach fünf spannenden und intensiven Jahren übergaben wir im Herbst 2017 eine gewachsene Organisation an eine neue Geschäftsführung, um selbst Raum für Neues zu haben.
Drei Dinge, die ich gelernt habe
1. Das Team – gemeinsam schafft man (fast) alles!
Katharina Kühn und ich gründeten querstadtein ehrenamtlich, parallel zu unseren jeweiligen Teilzeitjobs im Umweltbereich. Zu Beginn waren wir zu zweit. Im Sommer 2012 brachten wir unsere Idee im Rahmen des Start Social-Businessplan-Wettbewerbs zum ersten Mal zu Papier und begannen mit der Vernetzung im sozialen Berlin. Wir merkten schnell: die Idee ist gut, aber die Umsetzung wird uns nur mit einem größeren Team gelingen.
Selina Byfield (Mitte), Geschäftsführerin von querstadtein – Berlin anders sehen mit den beiden Gründerinnen Katharina Kühn & Sally Ollech (Bild: Mathias Becker).
Der Teamaufbau bei querstadtein hat mir gezeigt, wie viele Leute Lust haben, an einer Initiative mit gesellschaftlicher Wirkung mitzuarbeiten. Für sinnvolle Ideen kann man schnell Mitstreiter*innen gewinnen. Die ehrenamtlichen Teammitglieder rekrutierten wir überwiegend aus unserem Freundeskreis. Etwa ein Drittel des Teams gewannen wir auf Veranstaltungen, bei denen wir querstadtein vorstellten. In den ersten anderthalb Jahren arbeiteten wir alle ehrenamtlich – nur die Stadtführer wurden von Beginn an bezahlt. Auch heute begeistern mich noch das enorme Engagement und die vielfältigen Kompetenzen, die unser erweiterter Freundeskreis einbrachte. Nur dadurch konnten wir gemeinsam so viel erreichen und aufbauen.
Obwohl wir überzeugt von der Idee und unserem Konzept waren, wurden wir von der prompten und großen Nachfrage im Sommer 2013 überrascht. Wir hatten im März 2013 den Verein gegründet und pitchten querstadtein im Herbst desselben Jahres erfolgreich beim Social Impact Lab Berlin. Uns wurde schnell klar, dass die Nachfrage und das damit verbundene Wachstum hauptamtliche Strukturen erfordern. Wir stellten einen Förderantrag, hatten neben einer überzeugenden Idee auch Glück und damit die Finanzierung für die erste Stelle gesichert. Die Besetzung der ersten noch vollständig durch Fremdmittel finanzierten hauptamtlichen Stelle im März 2014 war ein großer personeller Umbruch für querstadtein. Ehrenamtliche Strukturen und Aufgaben verändern sich, sobald einzelne Aufgaben vergütet werden: Es ist weniger selbstverständlich, dass alle unablässig für alle Aufgaben greifbar sind, wenn Stück für Stück eine Geschäftsstelle aufgebaut wird. Das ehrenamtliche Team beginnt sich mehr und mehr auf eine hauptamtliche Geschäftsstelle zu verlassen, die insbesondere die organisatorischen sowie strategischen Aspekte im Blick hat. Im Oktober 2015 kam eine zweite hauptamtliche Stelle hinzu, um das neue Angebot, die Touren aus der Perspektive geflüchteter Menschen, zu konzipieren und umzusetzen. 2017 folgte die dritte Stelle, um das wachsende Tagesgeschäft bewältigen zu können, neue Stadtführer*innen zu suchen und mit ihnen neue Touren zu konzipieren.
2. Finanzierung und Geschäftsmodell – aus sozialem Engagement wird ein Social Business
Aus der Idee wurde zu allererst eine soziale Initiative, die sich in den ersten anderthalb Jahren rein ehrenamtlich trug. Daraus entstand ein Projekt, das durch die Auerbach Stiftung und danach durch die Bundeszentrale für politische Bildung gefördert wurde. Über die Jahre wurde querstadtein zu dem Sozialunternehmen, welches es heute ist. Das Geschäftsmodell von querstadtein basiert gegenwärtig auf einer Mischfinanzierung aus Fördermitteln und Einnahmen der Teilnahme-Beiträge – wobei der Anteil der Einnahmen Stück für Stück wächst.
Es gibt viele Möglichkeiten, soziale Ideen extern zu finanzieren – beispielsweise über private Stiftungen, Zuwendungen aus öffentlichen Förderprogrammen, Spenden oder durch soziale Investoren*innen. Allerdings bringen Fremdmittel immer auch Abhängigkeiten mit sich.
Von Beginn an war es uns wichtig, ein tragfähiges Geschäftsmodell zu entwickeln. Denn wir wollten querstadtein langfristig und jenseits von geförderten Projektlaufzeiten etablieren. Das Geschäftsmodell sollte auf eigenen Einnahmen und zunehmender Unabhängigkeit von externen Zuwendungen basieren. Zum Zeitpunkt der Gründung war uns allerdings klar, dass wir zunächst auf ehrenamtliches Engagement und Fremdmittel angewiesen sein würden: Die Einnahmen trugen nicht die vollen Kosten und tun es auch derzeit noch nicht. Daher ist es wichtig einen Finanzierungsmix aufzubauen, um möglichst nicht von einem einzigen Förderpartner abhängig zu sein. Anfang 2016 haben wir den Nachteil einer solchen Abhängigkeit erfahren, als durch einen neuen Förderschwerpunkt der Stiftung unser Antrag nicht verlängert wurde. In diesem Moment war nicht klar, ob wir rechtzeitig eine Folgefinanzierung finden und wie es mit querstadtein weitergehen würde. Eine für die Stadtführer*innen und das haupt- und ehrenamtliche Team herausfordernde Situation.
In der Förderlandschaft ist eine Art „Projektitis“ weit verbreitet: Neue Ideen werden in Form von Projekten gefördert, oft verbunden mit dem Zusatz „kein Maßnahmenstart vor Förderbeginn“. In der bestehenden Förderlogik ist das naheliegend: die Zuwendung ermöglicht erst die Umsetzung des neuen Projekts. Es ist schwierig, Förderpartner für die Verstetigung eines bestehenden Angebots zu finden. Es wäre wünschenswert, wenn das Projektdenken einer degressiven Förderpolitik weichen würde, die Organisationen dabei unterstützt, nachhaltige Finanzierungsmodelle aufzubauen und innovative, soziale Geschäftsmodelle fördert. Dokumentieren soziale Organisationen ihre Wirkung transparent, können potentielle Förderer und Impact-Investor*innen zudem schneller von der gesellschaftlichen Wirkung des Geschäftsmodells überzeugt werden.
In den letzten Jahren gelang es uns bei querstadtein, den Anteil der Kostendeckung aus eigenen Mitteln zunehmend zu erhöhen. Hierzu drehten wir an mehreren Stellschrauben: Wir haben neue Angebote geschaffen, mit weiteren Stadtführer*innen gearbeitet und veranstalteten dadurch mehr Touren. Darüber hinaus entwickelten wir höherpreisige, individuell zugeschnittene Formate für Unternehmen, die uns auch unsere ermäßigten Preise für Schulen und andere Bildungsträger ermöglichen.
3. Übergabe – die eigene Organisation in neue Hände geben und loslassen
Als Gründerin zu gehen, ist aus zwei Aspekten nicht einfach: erstens, jemanden zu finden, der zugreift und das Bestehende zum eigenen macht, und zweitens, der eigene Ablöseprozess von der Organisation.
Was passiert, wenn Gründer*innen den Staffelstab weitergeben? Zu Beginn habe ich die zentrale Bedeutung von uns Gründerinnen für das Fortbestehen von querstadtein unterschätzt. Ich war überzeugt davon, das Team trägt die Idee weiter, unabhängig davon, ob wir dabei sind oder nicht. Inzwischen ist mir klar, dass insbesondere in kleinen Organisationen das Fortbestehen eine Person erfordert, die eine sozialunternehmerische Rolle ergreifen will und sich gleichzeitig eng mit der Organisation verbindet.
Zudem ist die Suche nach einer Nachfolge bei Sozialunternehmen aus meiner Sicht schwieriger als im For-Profit-Bereich. Die Unsicherheit ist größer, die Finanzierung der Stellen knapper und immer wieder steht dadurch auch die Weiterführung der operativen Tätigkeit in Frage. Hierfür die richtige Person zu finden, braucht Zeit. Für die Geschäftsführung bedarf es eine Persönlichkeit, die sozialunternehmerisch und teamorientiert denkt, Risiken nicht scheut und Unsicherheiten aushalten kann, operative Themen managt sowie die bereits vorhandene Idee zu ihrer eigenen macht und strategisch weiterentwickelt.
Das eigene Baby loszulassen ist nicht einfach, aber wichtig. In meinen fünf Jahren bei querstadtein war mir nichts egal. Für das eigene Kind tut man alles – man arbeitet Nächte durch und denkt immer wieder aufs Neue an alle Potentiale. Gerade darum ist es aus meiner Sicht insbesondere in kleinen Organisationen wichtig, dass Gründer*innen, die sich aus der operativen Geschäftsführung zurückziehen und eine Nachfolge suchen, die Organisation dann auch verlassen, damit Raum für die nächste Generation und ihre Entwicklungen entsteht.
Als Gründungsteam haben wir Mitte September 2017 die Geschäftsführung an Selina Byfield und den neu gewählten ehrenamtlichen Vorstand übergeben. Ich bin erleichtert und auch stolz, dass wir gemeinsam querstadtein dahin gebracht haben, wo die Organisation heute steht und bin gespannt auf die nächsten fünf Jahre! Mit Selina haben wir eine sozialunternehmerisch denkende und handelnde Frau gefunden, die Lust hat, querstadtein zu ihrem eigenen zu machen und die Organisation gemeinsam mit dem bestehenden Geschäftsstellenteam und dem Vorstand weiterzuentwickeln und neue Ideen umzusetzen. Und bei mir persönlich entsteht: Raum für Neues.
Zur Person
Sally Ollech gründete im Sommer 2012 querstadtein – Berlin anders sehen, arbeitete parallel an der Schnittstelle von Wirtschaft, Naturschutz und Politik fünf Jahre für BiGC, ein Unternehmensnetzwerk zum Thema Biodiversität und baute anschließend den dezentralen Partnerbereich bei der GemüseAckerdemie auf. Aktuell ist Sally Teil der Geschäftsleitung von Diversicon. Das Sozialunternehmen hat sich zum Ziel gesetzt, Autist*innen in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Zudem arbeitet sie freiberuflich als Coach & Trainerin im Frischluft-Netzwerk.