Stell dir Folgendes vor: Einige Menschen werden in einen Raum mit einer Badewanne geführt. Der Wasserhahn ist voll aufgedreht, die Wanne läuft über. An der Wand stehen Mopps und Eimer. Nur Verrückte würden mit Mopp und Eimer versuchen das Wasser so schnell aufzuwischen, wie es aus dem Hahn läuft. Der vernünftige Mensch dreht den Hahn zu. Donella Meadows, eine der Vorreiterinnen im Bereich Systemdenken, hat dieses Szenario 1995 in einem Artikel beschrieben. Sie kam damals zu dem Schluss: Die Welt ist verrückt.
Im Jahr 2017 sieht die Lage nicht viel besser aus. Wir beobachten die Spaltung ganzer Gesellschaften und verfallen in politischen Aktionismus. Wir zerstören unsere Regenwälder, versuchen mit Konservierung und Aufforstung gegenzusteuern, wagen es aber nicht, etwa unseren Fleischkonsum anzutasten. Wir geben den Großteil des Geldes im Gesundheitssektor für Behandlungen aus, obwohl wir wissen, dass wir durch mehr Investitionen in Vorsorge länger und gesünder leben könnten. Wir folgen einem vorhersehbaren Muster: Wir sehen ein Problem und greifen instinktiv zu Mopp und Eimer.
Die Alternative besteht darin, die sozialen Systeme zu verändern, die für unsere Probleme verantwortlich sind. Und dabei können Sozialunternehmer eine wichtige Rolle spielen. Du kennst wahrscheinlich die berühmten Beispiele: Wikipedia und die neue Art, Wissen aufzubereiten und zugänglich zu machen; Grameen Bank und der Zugang zu Krediten auch für arme Menschen; Couchsurfing und der Milliarden-Markt, den das Übernachten in privaten Wohnungen mittlerweile darstellt. Wir haben im Deutschen noch keinen guten Begriff für dieses soziale Unternehmertum, das auf systemische Veränderungen abzielt. Wir können uns aber einen aus dem Englischen ausleihen: Systems Entrepreneurship. Systems Entrepreneurship bedeutet Mopp und Eimer beiseite zu legen.
Hier eine kurze Anleitung für Systems Entrepreneurship. Es braucht: einen Anspruch, eine Denkweise und eine Haltung.
• Der Anspruch: Wir möchten den Wasserhahn nicht nur finden, sondern ihn zumindest auch ein Stück weit zudrehen. Dafür genügt es in der Regel nicht, nur mit den Menschen zu arbeiten, die direkt von einem Problem betroffen sind. Stattdessen müssen Regeln geändert, Märkte geschaffen oder neue Informationsflüsse etabliert werden. Eben weil es in komplexen Systemen keine einfachen Lösungen gibt, bedeutet dieser Anspruch auch, den eigenen Ansatz immer wieder infrage zu stellen und anzupassen.
• Die Denkweise: Wir denken in systemischen Zusammenhängen und erkennen an, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Von den Ereignissen in den Nachrichten bis hin zu den konkreten Probleme von einzelnen Personen ist alles Teil eines größeren Ganzen. Was wir sehen, sind die Symptome von tiefer liegenden Ursachen, die oft auf komplexe Arten und Weisen miteinander verbunden sind. Systemdenker sind demütig angesichts dieser Herausforderung und bleiben trotzdem optimistisch.
• Die Haltung: Wir nehmen uns selbst zurück und stellen das Ziel in den Vordergrund. Viele Strategien können wir nur umsetzen, wenn wir unsere Ideen teilen und anderen dabei helfen, sie zu nutzen. Wenn wir die guten Ideen von anderen aufgreifen. Wenn wir Allianzen schmieden, Ressourcen teilen, und wo nötig mit einer Stimme sprechen. Wenn wir nicht fragen: "Was ist gut für mich und meine Organisation?" sondern "Was braucht die Welt, und welche Rolle können wir dabei spielen?"
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Wie können Anspruch, Denkweise und Haltung zusammenkommen? Nehmen wir Ashoka Fellow Jeroo Billimoria aus Indien. Jeroo setzt sich dafür ein, dass Kinder und Jugendliche am ökonomischen Leben teilnehmen können, etwa indem sie Zugang zu kindgerechten Bankkonten bekommen und bereits in der Schule lernen, mit Geld umzugehen. Die Idee: Wer das Konzept von Zinsen versteht und gelernt hat zu sparen, wird mit geringerer Wahrscheinlichkeit in Armut leben als jemand, der diese Fähigkeiten nicht hat. Die Organisation hat mit dafür gesorgt, dass diese Themen in die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen aufgenommen wurden. Im Jahresbericht von Jeroos Organisation, Child & Youth Finance International (CYFI), stehen beeindruckende Zahlen. An der jährlichen, globalen Veranstaltungsreihe "Global Money Week" haben sich 2015 zum Beispiel 1.000 Organisationen aus 124 Ländern beteiligt und zusammen 5,6 Millionen Kinder erreicht. Vor allem aber hat CYFI bereits mit über 90 Regierungen zusammengearbeitet und koordiniert nationale und internationale Netzwerke, um Finanzwissen in Lehrpläne zu integrieren und die Regularien für kindgerechte Finanzprodukte zu verbessern. CYFI schafft das alles mit weniger als 20 Personalstellen und einem Jahresbudget von unter 1,5 Millionen €. Wie das geht? Auf die Frage hat Jeroo ganz einfache Antworten: "Skalierung ist ein Familienfest. Lad alle ein! Und wenn du schon dabei bist, vergiss dein Ego und fokussier' dich auf die Sache!"
Oder nehmen wir Ashoka Fellow Margret Rasfeld aus Deutschland. Mit der Initiative Schule im Aufbruch arbeitet Margret an einem Paradigmenwechsel an deutschen und österreichischen Schulen: Kinder sollen nicht nur Wissen vermittelt bekommen, sondern aktiv lernen, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Schule im Aufbruch hat konkrete Angebote für Schulen, etwa Fortbildungen und Prozessbegleitung. Um die Schullandschaft zu transformieren, genügt es jedoch nicht, sich eine Schule nach der anderen vorzunehmen. Margret verknüpft daher Schulen zu einer Bewegung mit Eigendynamik: Mitglieder lernen voneinander, unterstützen sich gegenseitig und inspirieren gemeinsam weitere Schulen, sich ebenfalls auf den Weg zu machen. Margret hat natürlich konkrete Vorstellungen, welche Elemente für eine neue Lernkultur relevant sind und wie man sie umsetzen kann. Schulen, die sich der Bewegung anschließen, werden aber ihre eigenen Wege finden. Schließlich geht es Margret um den Paradigmenwechsel und nicht um Details in der Umsetzung.
Das sind nur zwei von zahllosen Beispielen für Systems Entrepreneurship. Aber reicht das, um etwa wirtschaftliche Teilhabe von Jugendlichen zu sichern oder das Bildungssystem zu transformieren? Natürlich nicht. Wir müssen viele Wasserhähne zudrehen, um ein soziales Problem zu lösen. Wir brauchen mehr systemisches Denken, einen noch ausgeprägteren Anspruch systemisch zu wirken, und eine noch weniger selbstbezogene Haltung, um diese Wirkung zusammen mit anderen zu erreichen.
Das bedeutet natürlich nicht, dass wir aufhören sollten, uns um die Symptome von sozialen Problemen zu kümmern. Es kann schon sein, dass wir mit besseren Strukturen im Gesundheitssystem weniger Patienten behandeln müssten. Daraus folgt aber nicht, dass es klug wäre, schon vorher Krankenhäuser zu schließen.
Es ist Zeit, Mopp und Eimer nicht komplett, aber doch öfter als bisher beiseite zu legen. Es ist Zeit für mehr Systems Entrepreneurship.
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Über den Autor
ODIN MÜHLENBEIN arbeitet bei Ashoka Deutschland und im internationalen Ashoka Globalizer Programm. Globalizer entwickelt Strategien für fortgeschrittene Sozialunternehmer aus aller Welt mit dem Ziel, Veränderungen auf systemischer Ebene zu erreichen. Zuvor war er Berater bei McKinsey & Company und hat auch selbst Sozialunternehmen gegründet.
Dieser Text ist in einer ähnlichen Version im Jahresbericht von Ashoka Deutschland erschienen. Das Magazin findest du hier.